1973: Die Chopper strotzen nur so vor Chrom, Glimmerlack und Tankgemälden. In Europa zählt Moto Senn aus der Schweiz zu den Wegbereitern

Der Schweizer Walter »Wädi« Senn hat den Look der Chopper aus den USA exakt im Fokus. Er bestellt Teile im gelobten Land, baut sich daraus seinen Traum-Chopper und setzt dabei auf den Honda-Motor, der in der Chopper-Szene als vollwertiges Triebwerk gilt. Serienerprobt, zuverlässig und, vor allem, problemlos zu kriegen! An einen Harley-Motor samt Getriebe ist kaum ranzukommen, die sind einfach viel zu teuer. Doch eine Zulassung wird Wädi erst bekommen, nachdem die eidgenössische Typenprüfstelle MFK sein Werk für gut befunden hat. Und die testet und testet – Teil um Teil, Monat um Monat. Der ursprünglich in Amerika bestellte Rahmen wird wegen seiner zu dünnen Rohre kritisiert. Wädi baut sich eine Rahmenlehre und macht den Rahmen aus hochfestem Chrom-Molybdänrohr. Die optische Ähnlichkeit seines Rahmens mit dem »Savior-Frame« der US-Firma AMEN bleibt bestehen. Dass dabei das Hinterrad in einer kurzen Geradwegfederung geführt wird, ist gewollt.

Erste Chopper mit Typenprüfung

Mit solchen Federungen, die noch in den 50er-Jahren an vielen Serienmotorrädern zu finden waren, kann fast die gleiche Optik wie mit einem Starrrahmen erzielt werden. Drei Jahre dauern die Prüfungen, vieles muss der Edelschrauber in Sonderaktionen verbessern. Doch 1977 ist es amtlich: Moto-Senn in Densbüren, im Schweizer Kanton Aargau, hat alle Hürden der Behörden gemeistert. Niemand will wirklich wissen, wie viele Fränkli die Aktion bis dato verschlungen hat. Senn baut die ersten Chopper, die in der Schweiz eine Typenprüfung bestehen. Nur das zählt! Die Fertigung kann nun sogar in Serie gehen. Begehrt ist die Senn-Honda zweifellos: Ihre lange, hochglanzverchromte Trapezgabel und ein hinteres Vielspeichenrad mit 144 glitzernden Speichen sind wahre Eyecatcher. Jede Felge des 15 x 4.5“-Hinterrades entsteht aus zwei äußeren (schon für Speichen gepunzten und gebohrten) Hälften von Jaguar-Drahtspeichenrädern.

Technik-Upgrade: Diese S80C erhielt im Nachgang den Evo-Motor der späteren Harley-Modelle

Noch gibt es für 15-zöllige Räder keine speziell auf ein Motorrad abgestimmte Bereifung. Also wird hinten ein Michelin ZX 175SR15 Pneu aufgezogen. Ja natürlich, das ist ein Autoreifen! Und er wird Mitte der 1970er nicht als unfahrbar angesehen. Auf Käuferwünsche hinsichtlich farbliche Ausführung und Ausstattung – wie Lenker, Sitzbank und Tank – wird bei der Bestellung eingegangen: Jedes Bike wird ein Unikat, entsteht in Handarbeit. So ein Motorrad hat selbstverständlich seinen Preis. Die exklusiv bleibende »Senn S75C«, mit Honda CB 750 Four-Motor, wird gerade zehn Mal verkauft. Inzwischen erkennt auch Harley-Davidson die Fähigkeiten der Schweizer Chopperbauer. 1978 wird Moto Senn offizieller Harley-Davidson-Dealer. Nun, da die Weichen völlig anders liegen, der Zugang zu Motoren und Getrieben viel einfacher zu bewerkstelligen ist, reifen Pläne für einen neuen Senn-Rahmen mit Harley-Davidson-Big-Twin-Motoren.

Moto Senn und der S80C-Chopper

1980 bringt Moto Senn den S80C-Chopper heraus. Selbstverständlich ist das Hinterrad im völlig neu konzipierten Rahmen nun mit doppelten Federbeinen gefedert, und trotzdem eine relativ niedrige Sitzposition geboten. Ein Shovelhead-Motor mit 1340 ccm und Vierganggetriebe befeuert nun das Gerät. Die Bremsen gehören zu den wenigen Zubehörteilen, welche die Densbürer zukaufen. Senn vertraut auf Qualität, das heißt: Bremszangen von Brembo und Grimeca-Handbremszylinder; die Bremsschläuche sollen sogar aus dem Formel-1-Rennsport stammen. 

Senn S80C mit optionalem Sargtank und darunter die Mastiff, die den Look der Fatboy um zwei Jahre vorwegnahm

Bei den Felgen hat der Kunde die Wahl. Und zwar zwischen der im Kit-Preis enthaltenen Version mit geschweißten Rohrspeichenfelgen im Design der US-Firma Invader – mit vier Speichen im fetten Hinterrad und einer grazilen Sechsspeichenfelge für vorne – oder der aus zwei Jaguar-Felgen zusammengeschweißten Hinterradfelge mit entsprechender Stahlspeichenfelge vorne gegen Aufpreis. Der hinten aufgezogene Autoreifen soll gut sein für fünfzigtausend Kilometer. 

1983 wurden die Senn-Chopper in Deutschland legal

Um eine Homologation für Deutschland zu verwirklichen, betreibt Senn eine Pseudo-Vertretung im nordbadischen Walldorf, nahe Hockenheim. »Die Senn-Chopper haben deutschen TÜV«!, geht es 1983 wie ein Lauffeuer um. Hierzulande, wo Firmen wie AME aktiv gute Vorarbeit für legales Choppertum leisten, gilt die S80C als das Allergrößte. Prospekte gibt es per Post.

1983 war es geschafft, Senn-Chopper durften auch in Deutschland mit TÜV-Segen fahren

Pilgerfahrten zu dem deutschen Senn-Shop? Sie enden im Nirgendwo des Industriegebiets oder an einem Bürogebäude in der Walldorfer Innenstadt, da es sich bei dieser Vertretung »nur« um eine Briefkastenfirma handelt. Wädis Bruder Georg, mittlerweile auch im fast 40-köpfigen Betrieb integriert, hatte bei den TÜV-Sachverständigen in Mannheim mit viel Zeit- und Geldaufwand ein Mustergutachten erstellen lassen. Nun, das ist keine Allgemeine Betriebserlaubnis. Das bedeutet, dass jeder Senn-Chopper, bei Senn aufgebaut und mit Senn-Teilen zusammengebaut, unter Berücksichtigung des vorliegenden Mustergutachtens, eine Einzelabnahme braucht. Das muss den Kunden nicht kümmern, er kann seinen Chopper schlüsselfertig in Empfang nehmen. Doch Interessenten müssen klug planen. Von der Bestellung bis zur Auslieferung von der Senn Moto Spezial AG sind mindestens zwei Monate einzurechnen. Von der Senn S80C werden circa 130 Stück ausgeliefert. Der Langgabelchopper an sich scheint Ende der 1980er tot zu sein. In den USA sowieso und auch in der Schweiz lässt die Nachfrage nach den Edelchoppern aus Densbüren merklich nach.

Moto Senn stellt die Produktion ein, als Abgasnormen immer härter werden

Da stellt man sich als offizieller Harley-Davidson-Händler die Frage, warum nicht ein mit überwiegend Harley-Davidson-Teilen aufgebautes Motorrad auf die Räder stellen? Unter dem Namen Senn Mastiff werden also in den Jahren 1986 bis 1988 Modelle mit einem neuen Design aufgebaut, das der drei Jahre später auf den Markt kommenden »Fat Boy« vorgreift. Mausgrau mit Alu-Scheibenrädern, Telegabel und der fetten Gabelverkleidung mit der großen Lampe der Electra-Glide. Nochmals wird der S80C-Rahmen verwendet. Das Motorrad wird ein toller Erfolg und findet guten Absatz, bis immer härtere Abgas-und  Geräuschnormen die Edelschrauber zwingen, die Produktion einzustellen.

Etwa 250 orignale Senn-Chopper wurden einst gebaut, Wädis Alltagsgefährt ist einer davon

Parallel zur Mastiff kann man auch Chopper unter dem Kürzel SCG80 ordern, die den serienmäßigen Harley-Rahmen nutzen und mit Senn-Chopper-Zubehör ausgestattet sind. Insgesamt werden bis 1988 circa 250 Motorräder der Modelle Senn S75C, S80C, SCG80 und Mastiff gebaut. Bei Moto Senn ist man sich der eigenen Tradition durchaus bewusst. Heutige Senn-Umbauten orientieren sich jedoch mehr an klassischen Vorbildern und momentan angesagten Trends. 

Info | Senn Chopper

 

 

Horst Heiler
Freier Mitarbeiter bei

Jahrgang 1957, ist nach eigenen Angaben ein vom Easy-Rider-Film angestoßener Choppaholic. Er bezeichnet sich als nichtkommerziellen Customizer und Restaurator, ist Mitbegründer eines Odtimer-Clubs sowie Freund und Fahrer großer NSU-Einzylindermotorräder, gerne auch gechoppter. Als Veranstalter zeichnete er verantwortlich für das »Special Bike Meetings« (1980er Jahre) und die Ausstellung »Custom and Classic Motoräder« in St. Leon-Rot (1990er Jahre). Darüber hinaus war er Aushängeschild des Treffens »Custom and Classic Fest«, zunächst in Kirrlach, seit 2004 in Huttenheim. Horst Heiler ist freier Mitarbeiter des Huber Verlags und war schon für die Redaktion der CUSTOMBIKE tätig, als das Magazin noch »BIKERS live!« hieß. Seine bevorzugten Fachgebiete sind Technik und die Custom-Historie. Zudem ist er Buchautor von »Custom-Harley selbst gebaut«, das bei Motorbuch Stuttgart erschienen ist, und vom Szene-Standardwerk »Save The Choppers!«, aufgelegt vom Huber Verlag Mannheim.