Wie eine biedere Simson SR2E zum schnittigen Boardtracker mutiert. Ein Low-Budget-Projekt mit großem Wow-Faktor …

Es gibt Geschichten, die sind einfach zu gut, um sie unerzählt zu lassen. So wie die dieser Simson, die bei einem Auktionshaus versteigert wurde und während der dunklen Wintermonate eine wunderliche Metamorphose zum klassischen Boardtracker durchmachte. Seitdem erlebt ihr Erbauer mit ihr vor allem zwei Dinge: Spaß und jede Menge Aufmerksamkeit. Das erste Mal läuft mir die Simson SR2E vor ein paar Jahren in einem Biker-Forum über den Weg. Es ist Winter – naturgemäß die beste Umbauzeit, die Foren sind voll von kuriosen Geschichten, deren Gros vor allem ein Thema zum Inhalt hat: mit den eigenen Händen das individuelle Traumbike zu erschaffen.

Die Springergabel ist mehr oder weniger ein Eigenbau, um dem Vorbild, den Boardtrackern, möglichst nahezukommen. Original trägt die Simson eine Schwingengabel. Auch der Rahmenoberzug ist nachträglich angebracht worden, ebenso wie der formschöne Tank

Also nur eine weitere Umbaustory? Nein. Immerhin geht es hier um ein Moped. Und das soll sich auch noch in einen Boardtracker verwandeln. Damit ragt die Geschichte doch ein gutes Stück weit aus dem Forenbrei heraus. Während der folgenden Wochen und Monate stillen nach und nach eingestellte Aufbaubilder den Hunger der interessierten Beobachterschar, die gebannt die verschiedenen Phasen und Probleme verfolgt, die so ein Projekt mit sich bringt – und mitleidet, wenn sich mal wieder neue Hürden auftun. Doch irgendwann erlebt die kleine Simson mit der langen Geschichte dann tatsächlich als Boardtracker ihr Rollout ins zweite Leben. Und ich darf sie zusammen mit ihrem Schöpfer in natura erleben. 

Sympathien fliegen dem Moped und seinem Treiber nur so zu

Ich treffe Clemens in Bruchsal und gemeinsam peilen wir einen alten Güterbahnhof an, um ihn und die Simson fotografisch in Szene zu setzen. Schon die Fahrt dahin gestaltet sich ziemlich actionreich. Die alte Simson geht so flott, dass ich es kaum schaffe dranzubleiben – was aber auch daran liegt, dass die aberwitzige Sitzposition ihres Fahrers mir vor Lachen die Tränen in die Augen treibt. Doch zwei Gänge und bescheidene 1,8 Pferdestärken hin oder her: Das Ding schnurrt wie eine alte Singer-Nähmaschine. Auch die anderen Verkehrsteilnehmer amüsieren sich. Sympathien fliegen dem Moped und seinem Treiber nur so zu, das in Stein gemeißelte Feindbild deutscher Blechdosentreiber – das des Ärgernisses auf zwei Rädern – scheint ausgesetzt.

Die Simson im Originalzustand, wie sie in Suhl von 1957 bis 1964 produziert wurde

An einer roten Ampel kommt ein Autofahrer nicht mehr gegen seine Neugierde an, kurbelt die Scheibe herunter und löchert Clemens, was das denn um Himmels willen sei, was er da unter seinem Hintern habe. Wir fliegen durch die Bruchsaler Innenstadt, der Verkehr wird dichter. Das Gespann Simson-Clemens pfeilt durch die Straßen. Vor uns tritt ein Autofahrer plötzlich und ohne erkennbaren Grund in die Eisen. Die Simson geht mit blockierendem Hinterrad quer und zieht einen langen Strich auf den Asphalt. Puh, nochmal gutgegangen – und doch nicht ohne Folgen, wie sich später noch zeigen wird.

Unverkäuflich – Simson SR2E im Boadtrack-Look

Als wir am Güterbahnhof ankommen, lacht Clemens erleichtert: »Wenigstens wissen wir jetzt, dass die Bremse funktioniert.« »Ja, die ehrwürdige Rücktrittbremse«, füge ich anerkennend hinzu und werfe mich mit der Kamera in den Staub. Ich liege kaum, da kommt schon der erste Neugierige mit dem Fahrrad an. Kein Hallo, kein Gruß, nichts. Stattdessen der freundliche Zuruf: »Isch die zu verkaufe?« Natürlich nicht. Clemens kennt die Anfragen zuhauf. Er hätte sie schon vergolden können, die Simson.

Zugegeben, die Sitzposition auf dem Boardtracker mutet aberwitzig an, erst recht wenn man zu den Menschen zählt, die über 1,80 Meter groß sind. Dennoch, das Feeling auf diesem Unikat ist unbezahlbar und wenn man auf dem Ding gesehen wird, gibt es nur nickende Anerkennung. Was will man mehr?

Anfangs absolviert der Ost-Möpp die Vorbeifahrten klaglos, doch dann verweigert er plötzlich die Gasannahme, gibt nur noch tief röchelnde Geräusche von sich. Alle Reparaturversuche scheitern – durch die Vollbremsung aufgewirbelten Dreck im Vergaser wird Clemens als Ursache später ausfindig machen. Wir geben auf. Keine Action mehr. Und wo keine Action herrscht, bleibt Ruhe für die kontemplative Auseinandersetzung. Es ist warm für Anfang April und wir verziehen uns mit der Ost-Perle für was Kaltes an einen Imbiss. Während die Kleine vor uns steht, erzählt Clemens, wie er auf der Suche nach einem ungewöhnlichen Moped in den Weiten des Netzes beim bekannten Auktionshaus auf sie stieß.

Schnäppchen – Eine Simson SR2E für 150 Euro

Niemand wollte sie, also bekam er den Zuschlag, für schlappe 150 Euro. Aus einem Nachbarort holte Clemens das Kultteil ab und stellte es mangels Ideen erst einmal in den Keller. Während des Zerlegens war es, da schoss ihm auf einmal das Bild vom Boardtracker in den Sinn. Ein gleich doppeltes Unding, denn erstens ist die Simson dafür kaum die geeignete Basis, und zweitens sollte sie eigentlich Clemens’ »Daily Driver« für die tägliche Fahrt zur Arbeit werden. Doch mit Entschlossenheit in der Brust und seiner fixen Idee im Kopf packt er an, und nach und nach nimmt der Boardtracker Gestalt an.

Wer sich an ungewöhnliche Projekte wagt, sollte eine gute Portion Kreativität mitbringen, denn viele Teile gibt es so gar nicht zu kaufen. Das Rücklicht ist eine Eigenkonstruktion aus einer Bootspositionslampe und Messinggehäusen

Für den Rahmenoberzug muss ein Heizungsrohr herhalten, und ein neuer Tank wird auch gleich entworfen. Die Gabel wird kurzerhand zur Springergabel umfunktioniert – aus selbstgebauten und zweckentfremdeten Teilen, versteht sich. Während wir uns weiter in unzähligen Details verlieren, wird mir langsam bewusst, wie viel Kreativität in diesem Boardtracker steckt. Immer wieder unterbreche ich Clemens’ Ausführungen, weil ich nicht glauben kann, woher so manches Einzelteil stammt. Wie kommt man auf solche Ideen? Alte Lampen, Teile von Möbelstücken, Schrottplatzfunde, allerlei Plunder aus dem Internet? Alles dabei, die Auflistung würde den Rahmen sprengen.

Als wäre die Simson 1961 genau so auf dem Reißbrett entstanden

Und doch wirkt alles wie aus einem Guss. So, als wäre die Simson 1961 genau in dieser Form auf dem Reißbrett entstanden. Keine Spur von Flickschusterei oder wahllos zusammengesuchten Accessoires. Auch ich spüre diesen Impuls: ins Auto hieven und mitnehmen. Die Zeit verfliegt, wir verabschieden uns. Die Simson will immer noch nicht. »Was soll’s?«, meint Clemens. »Ich hab’s erstens nicht so weit, und zweitens sind da ja noch die Pedale.« Spricht’s und radelt in die tief stehende Abendsonne davon.

 

Christian Heim