Dass Yamaha in den letzten Jahren wieder nach vorne gekommen ist, ist der überaus erfolgreichen MT-Reihe und im Besonderen der MT-07 zu danken. Anno 2005 mit der MT-01 geboren, war ihr Erfolg zu Anfang mehr als bescheiden. Elf Jahre und unzählige verkaufte Motorräder später hatte die Familienplanung mit der scharfen Vierzylinder-MT-10 ihren vorläufigen Abschluss gefunden. Ahnin 01 und Urenkelin 10 tragen zwar einen gemeinsamen Familiennamen, doch sie trennt weit mehr als ein Zahlendreher. Wir sind nochmal mit beiden ausgeritten.

Die Yamaha MT mit der Nummer 10 begeistert, wirklich mitreißen kann sie mich nicht. Was zum einen daran liegt, dass ich ­fette Vierzylinder lieber mit Kühlrippen mag und ohnehin mehr auf Dreizylinder und V-Motoren stehe, andererseits aber auch an diesem zerfetzten Transformer-Outfit. Er ist sehr weit vom Stamm gefallen, der MT-Apfel, das zeigt schon die Konfrontation der Grunddaten von Vorgängerin und Nachfahrin: 269 Kilo vollgetankt hier, 213 da.

Yamaha MT – 01-V2 oder 10-Four?

Beim Motor treffen urgewaltige Heavy-V-Twin-Klassik auf eine drehgeile Hochleistungsvierzylinderarchitektur, 90 auf 160 PS, 150 Newtonmeter auf 109, 1 525 auf 1 400 Millimeter Radstand. Noch Fragen? Oh ja, viele. Nicht im Kopf, wohl aber im Bauch. Theoretisches ­Wissen unterscheidet sich vom praktischen wie eine Selbstgedrehte vom Marlboro-Plakat. Wirklichen Impact hat nur die selbst durchlebte Erfahrung. Vielleicht will ich aber auch nur alte Vorlieben und langgehegte Klischees be­stätigt wissen. Jedenfalls steh ich jetzt mit Kollege Jens und den Motorrädern am Fuße dieser ehemaligen Bergrennstrecke, die lange Jahre meine Hausstrecke war.

Bis in tiefste Schräglagen hinein ist die MT-10 ein neutraler, verlässlicher ­Partner. Überhandlich ist sie nicht, dafür aber auch kein bisschen nervös

Rennstrecke? Oh ja, damals zum Erscheinungsjahr 2005 hatten sie ihrer MT-01 tatsächlich eine Rennserie auf den Leib geschneidert, ein Plan, den sie mit drei ­Ausbaustufen untermauerten: Zwei aufgesteckte ­Akrapovic-Tüten kennzeichneten Stage 1, Stage 2 ­packte eine Titan-Krümmeranlage samt Blackbox und fünf Mehr-PS obendrauf, Stage 3 schließlich konnte die ­Illegalität dann überhaupt nicht mehr verschleiern: ­modifizierte Blackbox, Akrapovic-Titan-Komplettanlage, andere Kolben und scharfe Nocken, verstärkte Kupplung samt Ventilfedern und nur zwei gähnend leere ­Ansaugtrichter unterm Tank. Und die MT-10? Dass sie die schnelle Runde goutiert, dürfte angesichts ihrer Herkunft niemandem entgangen sein.

Ein kraftvoll pulsierendes ­Monument im Aluguss-Rahmen

Ich lasse es mir nicht nehmen, auf der Dicken zu ­starten. Ist zwar schon ein paar Jahre her, doch ich ­erinnere mich genau, was ich damals nach den ersten Metern empfand: echte Begeisterung, kindliche Begeisterung. Und Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass Yamaha die schon 1999 in Tokio präsentierte Studie wahr gemacht und ein Krad auf die Räder gestellt hatte, das sich wohl­tuend von allem Gewohnten abhob.  Ein kraftvoll pulsierendes ­Monument hing da im Aluguss-Rahmen, elend langhubig und mit beinah 1,7 Liter Hubraum lässig souverän. Drumherum kein unsäg­liches Cruiser-Gestühl, sondern ein vergleichsweise ­knackiges Roadster-Fahrwerk. „Immer mehr Leistung ist kein Problem, auf der Straße aber witzlos“, diktierte mir Projektleiter Takashi Tominage­ damals in ­meinen Notizblock.

Seit der gemütlichen Runduhr der MT-01 ist halt doch einige Zeit ins Land gegangen. Das beweist nicht nur das Multidisplay, das tun auch die zahlreichen Elektrohelferlein, deren Funktionen es anzeigt

»Die MT lebt nicht von Höchstgeschwindigkeit.« Wie wahr. Doch wovon lebt dieses Motorrad dann auch heute noch, wo es in den Gebrauchtpor­talen mittlerweile unverschämt hohe Preise erzielt? Jedenfalls nicht nur vom spannenden Gegensatz zwischen Cruiser-V2 und Sportfahrwerk. »Master of Torque« und »Kodo« lauteten die Claims der blumigen Marketingprosa, und die war im Gegensatz zur Rennserie – die nie Wirklichkeit wurde – tatsächlich nicht zu dick aufgetragen: ein Fahrerlebnis, das sein Momentum nicht aus Leistung, sondern aus schierer Hebelkraft generiert und der typische Herzschlag des Twins, japanisch »Kodo«.

Die Dynamik eines von mächtiger Faust geschwungenen Schmiedehammers

Du kannst ihn hören, wenn der Motor zum Leben erwacht. Wenn sich Luft und Benzin auf den Weg machen, eng umschlungen in den Einlass schlurfen, in die Brenn­räume pressen und machtvoll detonieren, um zu guter Letzt als Druckwelle in Richtung Mündungstrichter zu rollen. In endloser Aneinanderreihung ein Trommelfeuer der Emotionen. Aus der Road Star Warrior ­stammte ­dieser Motor, ein Motorrad so ­lächerlich wie sein Name. Unter den ­entschlossenen Händen der Ingenieure aber ­hatte er ­eine ­heftige Metamorphose durch­gemacht.

Auch nach so vielen Jahren immer noch eine famose Bremszange. Die Reibpaarung ist allerdings so gewählt, dass ein Finger nicht immer ausreicht. Alltagstauglich eben

90 statt 60 PS leistete er in der MT. Und wog 20 ­Kilogramm (!) weniger, die zwei ­wichtigsten davon hatte man der Kurbelwelle abgespant, Stichwort Schwungmasse. Das ­Ergebnis? Nicht die Dynamik einer aus dem Lauf ­gespuckten ­Gewehrkugel, wie sie die ­MT-10 mit ­ihrem Superbike­motor bietet. Eher die eines von mächtiger Faust geschwungenen Schmiedehammers. Ja, dieser Rhythmus packt bei den Eiern. Doch auch wenn das Chassis der 01 das ­knackigste Fahrwerk ist, von dem ein fetter Cruiser-Twin jemals träumen durfte, und recht handlich obendrein: Durch die engen Windungen der Bergstrecke braucht es bei Speed schon eine Männerhand – auch ein paar Kilos um die Körpermitte herum können nicht schaden –, um das ­lange Ding in die Richtungswechsel zu überreden.

Die Bremszangen der Ur-R1 an der Yamaha MT

In den flüssigen Wellenlinien zum ersten 180-Grad-Wendepunkt der Bergaufstrecke ist das aber das reine Vergnügen. Wie ein Bungeeband zieht der Motor, und völlig absorbiert von der harmonischen Eleganz von Mensch und Maschine schlängelst du dich auf dem gewichtigen Einbaum durch die Asphaltschnellen. Und dann ist sie urplötzlich da, die Kehre. Pah, denken sich die Bremszangen, als ich sie zum Anschlag zwinge. Der Weg langt ihnen locker; schließlich gehen sie auf die ­legendären Teile aus Yamahas ­Widowmaker – der Ur-R1 von 1998 – zurück, werden bis heute in diversen Modellen und Versionen ver- und gebaut und machen immer noch sehr zufrieden.

Auf dem Weg von der R1 in die MT-10 erfuhr der Vierzylinder einige ­Änderungen. Mit konventionellen Downtuning-Maßnahmen wurden seine Leistung beschnitten und seine Drehmomentwucht erhöht

Auch die giftige MT-10 trägt sie. Der kleine Schreck war trotzdem heilsam, denn jetzt stehen Geist wie Physis Gewehr parat für den Einsatz, den die Kehrtwende ­fordert. Und der ist – groß. Angesichts ihrer fast 270 Kilo – mit mir im Sattel sind das locker sieben ­Zentner – geht das Ding trotzdem überraschend behände um die Ecken. Von Haus aus war das Fahrwerk für gute Rückmeldung straff abgestimmt und lag auch auf üblen Pisten erstaunlich gut. Bei unserem in die Jahre gekommenen ­Exemplar allerdings haben Zeit und Verschleiß die Dämpfungscharakteristik ein gutes Stück weit in Richtung Komfort verschoben – und eines bisweilen unkalkulierbaren Eigenlebens. Eine Überholung samt frischem Öl würde der Hardware gut zu Gesicht stehen.

Fahrverhalten wie ein frisch internierter Gummizelleninsasse

Die auch schon sieben Jahre alte MT-10 performt dagegen hochexakt und beinah überhandlich, ist dabei aber keine Spur zappelig oder nervös. Für stabilisierendes Beharrungsvermögen packten man ihr Extragewicht auf die Kurbelwelle und orientierte Masseverteilung und Sitz­ergonomie nach vorn. Superbikepower kann in Verbindung mit einem hoch montierten und breiten Lenker andernfalls sehr haarig werden. Im genannten Streckenabschnitt hat ihr Fahrverhalten dann aber doch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem eines frisch internierten Gummizelleninsassen.

Na, was fällt auf? Eine erstaunliche ­Ähnlichkeit in der Form des Schultergürtels, meinen wir. Damit und mit dem ­Modellkürzel aber enden schon die ­Gemeinsamkeiten

Wenn du sie ausquetschst und wild ausdrehst, musst du sie umso heftiger wieder runterbremsen. Hektisch wird’s dann, die ganze Fahrerei unrund und nur dann wirklich schneller, wenn du auf Geraden den Leistungsvorteil oder in besagten Ecken den Handlingvorteil ausspielst. Was sich mir viel stärker ins Bewusstsein drängt als die Mehrpower, ist die Gewalt, mit der ich die Stille des Waldes störe. Nix Neues für uns Kradisten, aber wenn du so eine Vierzylinderspritze im Wald richtig auswringst, können allein ihre Schallwellen die nächstgelegenen Tannen umsägen. Auf einem Rundkurs ist sowas angemessener.

Yamaha MT – Der Antrieb der 10er ist nur ein weiterer Four

Auch die MT-01 hat einen poten­ziellen Rodungseffekt. Der aber lässt sich ­vermeiden, solange du ihre Masse auf der Straße halten kannst. Und ihr Twin zieht ultracool, auch akustisch. Hier in der Natur bremst mich das ­Kreischen tatsächlich etwas ein. Aber nur so lange, bis Jens mit der Dicken davonzieht und ich mich wieder an sein Hinterrad heranhetze. Die Attraktivität dieser Vorwärtsdynamik gepaart mit dem agilen Gewicht länger zu leugnen, gelingt mir nicht. Auch Hektik kann schön sein. Letztendlich aber ist der Antrieb der MT-10 nur ein ­weiterer Vierzylinder unter vielen, wenn auch dank seines Crossplane-Konzepts kein namen­loser.

Nein, das hier ist nicht die natürliche ­Hackordnung auf der Piste. Doch es gibt schon den ein oder anderen Streckenabschnitt, auf dem die MT-01 am Hinterrad der MT-10 dranbleiben kann

Druck aus 1000 Kubik ist nie ein laues Lüftchen und der 90-Grad-Four liefert seinen Wind mit dem rauen Charme eines V4-Antriebs. Ein Monster of Torque ist er aber auch damit nicht. Drehmoment für die Gereiften, Leistung für die Junggebliebenen? Wie auch immer: Eine BMW S 1000 R, eine V4-Tuono oder gar eine Super Duke-V2 machen bei gemütlichen Drehzahlen mehr Alarm – bei gleicher oder höherer Topleistung. Den heftigsten Tritt in den Arsch liefert die Zehner jedenfalls bei über 7 000/min, einer Drehzahl also, bei der dir der Schwermetallschlegel der MT-01 mit seinen endlos langen, old fashioned Stößelstangen längst um die Ohren fliegen würde.

Genießer knackigen Schwermetalls sind bei der MT-01 goldrichtig

Wie bescheuert muss man eigentlich sein, das Hohelied der MT-01 zu singen und die Gebrauchtpreise in die Höhe zu treiben, wenn man selbst immer mal wieder über der Möglichkeit eines Kaufs brütet? Doch egal, wir wollen ehrlich sein: Genießer knackigen Schwermetalls sind bei der Urmutter der MT-Reihe goldrichtig. Die MT-10 ist was für junggebliebene Extre­misten. Seid ihr beides, bleibt immer noch die Bank um die Ecke.

Yamaha MT-10 im Testcenter


Motor

Startet nach zwei Diagnoserunden, hängt sofort gut am Gas. Seilzugkupplung greift kalt giftig, mit der Temperatur wächst der Dosier­bereich. Drei Mappings für die Gas­annahme, von Standard über A nach B steigt der Aggressivitätsgrad mit praxisgerechter Spreizung. Geschmeidiger Rundlauf schon bei niedrigsten Drehzahlen, das Anfahrdrehmoment ist eher mäßig. Erst ab knapp 4 000/min steigt der Four mit Macht ein, dann folgt ein Inferno mit eingebauter Wheelie­stufe bei 8 000/min, das bis in den Begrenzer bei über 11 000/min lodert. Crossplane-Bauweise macht den Four durch eine ­gewisse Rauigkeit auch haptisch erlebbar, ab 6 000/min werden die Hornissen im Kurbelgehäuse wütend. Leichtgängige Kupplung, das Getriebe ist in allen Belangen ein Gedicht. Knapp acht Liter sind bei Auskosten des Potenzials einzukalkulieren. Das ergibt angesichts des 17-Liter-Tanks eine Praxisreichweite von 200 Kilometern.


Fahrwerk

Nicht leichtfüßig, aber von flüssiger Handlichkeit, in schnellen Wechselkurven braucht’s klare Lenkbefehle. Voll justierbare Federelemente überzeugen in Einstellbandbreite wie Ansprechverhalten. Sehr neutrales Kurvenverhalten bis in tiefste Schräglagen, hohe Zielgenauigkeit, nur sehr milder Aufstellimpuls beim Bremsen. Geht willig und ohne Kippeligkeit auch auf engste Linien. Geradeaus bis Topspeed stabil. Endlose Schräglagenfreiheit. Eingeschränkter Lenkeinschlag, aber noch praxisgerecht. Dreistufige Traktionskontrolle greift in eins schon beim Durchbeschleunigen auf trockener Bahn, drei fängt Rutscher im Nassen weich ab. Transparent dosierbare Bremse, zwei Finger sollten aber immer am Hebel liegen. Bei diesem Kraftaufwand dann sehr wirksam. ABS regelt flüssig, meist mit kleinem Abschluss-Stoppie kurz vorm Stillstand. Bereifung im Test: Bridgestone S 20 in Kennung W.


Praxis

Gut integrierte, entspannte Fahrhaltung, Kniewinkel bei 1,76 cm Fahrergröße locker. Guter Knieschluss, auf Strecke entlasten Sitz-Auflagefläche und Ergonomiespielraum. Soziussitz indiskutabel: keine echten Haltepunkte, Knie sagen den Ohren hallo. Digitales, monochromes Dashboard mit allem Schnickschnack (u. a. Ganganzeige und Tankuhr), Drehzahl schlecht ablesbar. Cockpit-Windschild bringt spürbare Windentlastung. Verarbeitung und Materialanmutung wertig. Einteilige, radial montierte Bremszangen. Fahrwerk voll einstellbar, Bremshebel auf Griffweite justierbar. Ölkühler im Steinschlagbereich des Vorderrads durch Gitter geschützt, Wasserkühler ungeschützt. Traktionskontrolle und Fahrmodi bequem vom Lenker aus anwählbar. LED-Scheinwerfer. Pflegeintensiver Kettenendantrieb, nur Seitenständer. Inspektionsintervalle 8000 Kilometer, Ölkontrolle per Schauglas.


Emotionen

Das Extrovertiert-Schrille täuscht: Diese Downgrade-R1 kombiniert Allmacht mit perfekter Kontrolle, ein Charakterzug mit großer Anziehungskraft. Das gewagte Design aber ist nix, was einen in schlaflosen Nächten in die Garage lockt.

 

 

Guido Kupper
Redakteur bei CUSTOMBIKE

Guido Kupper, fährt praktisch seit seiner Geburt in grauer Vorzeit Motorrad, hat mit dem Schreiben aber erst angefangen, als er schon sprechen konnte. Motorisierte Zweiräder hat er nur acht Stück zur Zeit, Keller und Garagen sind trotzdem voll. Sein letztes Ziel im Leben: Motorrad fahren und mal nicht drüber schreiben