»Mein ganzes Leben war wunderbar ab dem Moment, als ich anfing, Motorrad zu fahren. Ich habe so viele nette Menschen getroffen, Freunde auf der ganzen Welt. Ich kann überall hinkommen und bei Freunden sein. Es war großartig!« Vor genau vier Jahren, am 22. März 2019, verstarb Custom-Ikone Arlen Ness. Wir blicken zurück auf ein Leben für Motorräder.

Es war ein schicksalhafter Tag im Jahr 1963, als ein 24 Jahre alter Mann eine Harley-Davidson Knucklehead sah, die zum Verkauf stand. Er war gerade auf dem Heimweg von seinem Job als Möbellieferant, zu Hause warteten seine Frau Beverly, hochschwanger mit einem Sohn, und seine zweijährige Tochter. Arlen Ness, so hieß der junge Mann, nahm dreihundert Dollar, die er beim Bowlingspielen gewonnen hatte, und kaufte das Motorrad am nächsten Tag. Sein Freund Charlie holte es mit ihm ab und fuhr es nach Hause, weil Arlen mit Handschaltung und Fußkupplung nicht zurechtkam.

1963 kaufte sich Arlen Ness für 300 Dollar, die er beim Bowlingspiel gewonnen hatte, eine Harley Knucklehead. In den folgenden vierzehn Jahren wurde das Bike mehrfach umgebaut – hier die zweite Umbaustufe aus dem Jahr 1964

Er selbst hatte große Probleme, es nur in die Garage zu fahren, ein dutzend Mal ging ihm die Harley aus. Seine Frau öffnete die Tür, warf einen Blick auf das Bike und schlug ihrem Mann die Tür vor der Nase wieder zu. Es war der Anfang von allem. Arlen fuhr mit der 47er Knuckle überall hin, er freundete sich mit anderen Bikern an und begann, sich in der noch jungen Motorradszene zu engagieren. Als Mitglied des Bikerclubs »The Questionmarks« fuhr er regelmäßig in San Franciscos Haight-Ashbury-District.

Jedes Jahr baute er seine Knucklehad quasi neu

Und er hing in Harry Brown’s »Hayward Garage« rum, wo Harry Motorräder lackierte und Arlen versuchte, so viel er konnte, über Motorräder und Customizing zu lernen. Er fing an, selbst zu lackieren, mit Grafik- und Flammendesigns zu spielen, sowohl an Harrys Kundenfahrzeugen als auch an seiner eigenen Harley. Jedes Jahr baute er seine Knucklehad quasi neu auf und brachte sie immer im Januar zur damals bekannten »Oakland Roadster Show«. Da immer mehr Leute Parts und Bikes von ihm kaufen wollten, wagte Arlen den Schritt in die Selbstständigkeit, er wollte vom Customizing leben.

Der Customizer und seine Frau Beverly waren 59 Jahre lang verheiratet. Das Bild zeigt sie 1977 mit der gerade fertig gestellten »Two Bad« mit Sportster-Doppelmotor

1970 zog er schließlich aus seiner Doppelgarage in einen kleinen Laden mit Schaufenster um. Jeden Nachmittag bis in den Abend stand Arlen nun hinterm Tresen. Am Vormittag baute er an seinen Bikes, oder lackierte für Kunden weiter in der alten Doppelgarage. Im Laufe der Jahre sollte Arlen noch einige Male umziehen, weil sein Geschäft unaufhörlich wuchs. Heute findet sich »Arlen Ness Enterprises, Inc« in einem stattlichen 6500-Quadratmeter-Komplex in Dublin, Kalifornien, in dem unter anderem ein privates Museum mit fast fünfzig Ness-Bikes integriert ist. Doch zurück in die Siebziger.

Arlen Ness – Alles begann mit der »Ram Horn Bar«

Ohne es zu realisieren, hatte Arlen Ness ein Geschäftsmodell für eine Branche geschaffen, bevor das Wort »Aftermarket« überhaupt zu einem gängigen Begriff wurde. Und angefangen hatte alles mit einem Lenker. Der »Ram Horn Bar« war das erste Teil, das die junge Firma designte und baute. Die ebenfalls noch junge Szene dürstete nach vorgefertigten Teilen für ihre Motorräder, und Ness gab sie ihnen. »Die Leute schienen zu mögen, was ich baute, also ging ich den nächsten Schritt.« Er baute die Lenker, brachte sie zum Polieren in einen örtlichen Shop, danach zum Verchromen.

Arlen Ness in seinem zweiten Laden in San Leandro, Kalifornien

Zwanzig Lenker entstanden so im Schnitt, eine große Investition für die kleine Firma. Aber die Leute sahen den Lenker, verbaut an einem Bike in einem Magazin, und wollten ihn haben. »Über Werbung wusste ich damals nichts«, erinnerte sich Arlen in einem früheren Gespräch, »das war alles Mund-zu-Mund-Propaganda.« Und er erkannte schnell, wie wichtig es war, immer wieder Motorräder zu bauen und Veröffentlichungen in Zeitschriften zu bekommen. »Die Leute konnten sich nicht unbedingt ein ganzes Bike leisten, aber ein Lenker oder ein paar Spiegel oder Griffe, das war immer drin.«

»Quality Motorcycle Parts from California Craftsmen«

Und so begann Ness, ein Teil nach dem anderen zu entwickeln, zu bauen und zu verkaufen – quasi jedes Jahr präsentierte er neue Parts, aber vor allem Motorräder, an denen sie verbaut waren. Seine »Quality Motorcycle Parts from California Craftsmen« wurden mit jeder Show und jedem Profi-Customizer, der sie verbaute, bekannter. Wenn es einen Pionier gibt, der den in der Folge blühenden Harley-Aftermarket entscheidend geprägt hat, dann war es ohne Zweifel Arlen Ness. 1977 sollte endlich auch seine Knucklehead, die er immer noch Jahr für Jahr umbaute, zu Ruhm kommen.

Untouchable

Auf der oben genannten Show in Oakland präsentierte er sie als »Untouchable«. Es war der vierzehnte Umbau mit ein und demselben Basisbike, und endlich würdig, den Titel »Best of Show« zu bekommen. Noch im selben Jahr haute Arlen seinen nächsten Kracher raus. Die »Two Bad« ist eines der bekanntesten Bikes von Arlen Ness. Zwei hintereinander gekoppelte Harley-Davidson-Sportster-Motoren ergeben satte 2000 Kubizentimeter Hubraum aus vier Zylindern, dazu gibt es zwei Weber-Vergaser, zwei Batterien, zwei Öltanks und eine Nabenlenkung.

Die »Two Bad« war ein Meilenstein des Customizing

Arlens Vorliebe für den Digger-Stil wird trotz des wahnsinnigen Antriebs deutlich, in der Linie, den Gravuren und den gold-eloxierten Anbauteilen. Das Bike war auf jeder Show umringt und Arlen hatte Spaß daran, es aus der Entfernung mittels eines Garagentoröffners zu starten und das erstaunte Publikum zu beobachten. Dieses Motorrad war in jeder Hinsicht, optisch und technisch, Ness pur – und ein Meilenstein des Customizing allemal. 1978 folgte mit der »Nesstique« direkt der nächste, es ging Schlag auf Schlag. Es war in dieser Zeit, als Arlen Ness ein weiteres Herzensprojekt startete.

Two Bad

Gemeinsam mit Dave Perewitz und Donnie Smith gründete er den »Hamsters MC«. Was zunächst eine lockere Verbindung von Gleichgesinnten war, wurde zu einem Club, der sich darauf konzentierte, Bikebuilder und Customizer miteinander zu vereinen, ihr Können und ihre Erfahrungen zu bündeln und Custombikes so letztlich immer besser zu machen. Einige der längsten und ältesten Verbindungen, die Arlen Ness führte, entstanden daraus. Arlens Sohn Cory und sein Enkel Zach gehören heute ebenfalls zu den mehreren hundert »Hamsters«. Auf großen Events in den Staaten, wenn sie gemeinsam im Rudel fahren, erkennbar an ihren gelben T-Shirts.

Arlen Ness baute unermüdlich weiter Motorräder

Mittlerweile in den Achtzigerjahren angekommen baute Arlen Ness unermüdlich weiter Motorräder, darunter die »Orange Blossom« (1984), das von der gleichnamigen Firma gesponserte »Accel Bike« (1986), die »Blower« (1987) oder die »Ness Café« im Jahr 1990. Die Custom-Industrie, wie wir sie heute kennen, boomte gewaltig. Komplettaufbauten entstanden in unfassbarer Zahl überall auf dem Globus und die Aftermarket-Industrie, besonders im Harley-Sektor, war mittlerweile eine feste Größe geworden.

Ness Cafe

Auch Arlen Ness’ Firma wuchs und wuchs, trotzdem entstanden regelmäßig Motorräder unter seiner Hand. Die Neunziger können heute getrost als sein produktivstes Jahrzehnt bezeichnet werden. Er brachte viele »Signature«-Bikes mit unterschiedlichen Inspirationen heraus. Als Ode an die 1960er Jahre baute er einige sehr coole Chopper wie den »Yellow Knucklehead Chopper« (1990), den »Red Flame Chopper« (1993) oder den »Green Flame Chopper« (1995). Einige seiner denkwürdigsten Arbeiten wie die »Nesstalgia« (1995), die aufgrund ihres Hecks oft als »Chevy Bike« bezeichnet wird, oder seine »Smoothness« (1995), als deren Basis dem Customizer die Form eines Bugatti-Roadsters von 1932 diente, stammen aus dieser Zeit.

Sohn Cory wurde zum Vizepräsidenten der Arlen Ness Inc.

Ab 1997 entwarf Ness schließlich auch seinen ersten Bagger sowie zahlreiche Themenbikes. Am Ende des Jahrzehntes stand schließlich das »Arrow Bike«, wiederum von Autos inspiriert, diesmal der 1920er und 30er Jahre. Das Unfassbare neben den visionären Designs und der sauberen technischen Arbeit an den Motorrädern war vor allem aber, dass ausnahmslos alle Ness-Bikes auch fahrbar waren und vom Meister persönlich bewegt wurden. 

Sohn Cory und Enkel Zach führen das Erbe von Arlen Ness fort

Das neue Jahrtausend begann Arlen Ness mit einer geschäftlichen Entscheidung, indem er seine Kinder fest in seine Firma integrierte. Sohn Cory wurde zum Vizepräsidenten von Arlen Ness Inc. und übernahm damit die Verantwortung für den täglichen Geschäftsbetrieb. Seine Tochter Sherri Ness übernahm die Personalabteilung des Unternehmens. Das gab Arlen Ness, nun Anfang sechzig, die Möglichkeit, noch mehr Zeit damit zu verbringen, Motorräder zu designen und zu bauen. Und sein Museum voranzutreiben, in dem seine Werke einen festen Platz haben könnten.

Arlen Ness verlor den Biker Build-Off gegen den Sprössling

An Rente dachte er nicht. Vor allem nicht, als der amerikanische Discovery Channel einen noch größeren Hype um umgebaute Motorräder auslöste und die TV-Serie »Biker Build-Off« startete. Zweimal stand Arlen für das Fernsehformat vor der Kamera. Das erste Mal 2004 in Hawaii, sein Gegner war sein eigener Sohn Cory. Klar, die Amerikaner hatten schon immer ein Gespür für dramatische Storys. Arlen Ness verlor den Build-Off gegen den Sprössling zwar, aber der Werbeeffekt für die Ness Inc. war gigantisch, »der Traum einer Win-Win-Situation«, wie Arlen später lachend erklärte.

Smoothness

Den zweiten Fernsehwettbewerb trug er gegen den noch jungen Roland Sands aus. Das Finale war eine Fahrt nach Puerto Rico, wo das Voting über den Sieger stattfand. Arlen baute dafür einen eigenen Rahmen, der einen S&S-Motor samt Kompressor beherbergte und entschied den Wettbewerb am Ende für sich. Roland Sands hatte gegen den König der Customizer verloren, was keine Schande ist. Und seinem Geschäft tat der Battle rein marketingtechnisch ebenfalls mehr als gut. 2005 folgte ein weiterer Motorrad-Meilenstein in Arlens Karriere. Mit dem »Jet Bike« bewies er einmal mehr, dass er sich nicht festlegen wollte auf Antriebe, Designs oder Stile.

Arlen Ness fungierte als Designberater bei Victory

In diesem Bike ist ein Motor aus einem Hubschrauber verbaut, den Arlens guter Freund Barry Cooney angeschleppt hatte. Bob Munroe fertigte die Aluminiumkarosserie für das Bike in Handarbeit an und Carl Brouhard lackierte Grafiken. Diese waren so detailliert, dass sich hinter den lackierten Nieten scheinbarer Rost aus vielen Flugstunden gebildet hatte. Nebenbei bauten Arlen und Cory Ness eine enge Beziehung zum heute nicht mehr existenten Motorradhersteller Victory auf, als dessen Designberater Arlen Ness fungierte. So zeichnete er verantwortlich für die »Ness Vegas Signature Series« und die Victory-Kingpin-Modelle.

Red Magnum

In den letzten fünfzig Jahren hat Arlen Ness über fünfzig teils unglaubliche Motorräder gebaut, die wir euch in der Bildergalerie zeigen. Das jüngste Projekt entstand 2018: Die »Red Magnum« mit Flathead-Gehäuse, Sportster-Köpfen und Softail-Getriebe wird als das letzte Motorrad in die Geschichte eingehen, das der »King of Customs« geschaffen hat. Auf die Frage nach dem Geheimnis seines Erfolges, hatte Arlen Ness überraschend einfache Antworten: »Nimm alles nicht so schwer, sei immer ehrlich, nimm jeden ernst und lächle. Baue dir dazu ein Team auf, dem du vertrauen kannst. Und habe hoffentlich das Glück, eine dich unglaublich unterstützende Familie zu haben.«

Mit seiner Frau Beverly war er 59 Jahre lang verheiratet

Und so war es am Ende vor allem eine Person, die Arlen Ness immer als die wichtigste hinter seinem Erfolg bezeichnete. Mit seiner Frau Beverly, jene, die ihn damals verfluchte, als er seine erste Harley kaufte, war er 59 Jahre lang verheiratet. Auch, als er friedlich und für immer einschlief, war sie an seiner Seite. Unsere Szene hat vor vier Jahren ihren König verloren, wir verneigen uns mit allem Respekt vor ihm und seinem Lebenswerk.

 

Lichter/Weber