Sein erstes Kabarettprogramm hieß »Biotop für Bekloppte« und es gab keinen Zweifel, was damit gemeint war: Köln! Der Kabarettist Jürgen Becker kam dort zur Welt und zeigt uns, warum dieses desaströse Haufendorf am Rhein damit genau das richtige für ihn ist – natürlich auf dem Motorrad.

lso Biker, Helm ab zum Gebet: Das berühmte Wahrzeichen Kölns ist die große Kirche mit den beiden Türmen gegenüber von McDonald’s. Ohne die und zwölf veritable, romanische Kirchen sähe die Domstadt auch nicht viel anders aus als Dinslaken, Delmenhorst oder Duisburg.

Köln ist sowas wie ein stadtgewordener Lothar Matthäus

Wie auch? Im Zweiten Weltkrieg haben die Briten Köln so lange bombardiert, bis nichts mehr funktioniert hat. Und dann haben sie uns geholfen, eine Stadtverwaltung aufzubauen, damit das auch so bleibt. Zusätzlich ist Köln der Idiotenhügel der Kommunalpolitik. Hier geht alles schief, was schiefgehen kann. Vom U-Bahn-Bau bis zu jener Silvesternacht auf der Domplatte vor dem Hauptbahnhof. Seit damals steht Köln weltweit für zwei Begriffe: Inkompetenz und sexuelle Übergriffe. Köln ist damit sowas wie ein stadtgewordener Lothar Matthäus. 

Es hätte so schön werden können. Aus dieser Renault Estafette sollte ein Sitzplatz für Cafébesucher werden. Klappte nicht, weil die verbohrten Menschen bei den Kölner Behörden das nicht wollen

Aber eines kann Köln: Subkultur! Von Sachen, wo die »AvO« nix von wissen, schillert Kölle wie eine Metalflake-Candy-Lackierung. Doch Stopp, vorher muss ich kurz erklären, was AvO ist. Das ist nämlich entscheident dafür, dass Köln oft so Panne ist. AvO heißt »Arschlöcher vom Ordnungsamt«. Diesen Fachterminus habe ich selbst überprüft. Mein Motorradfreund Alex ist 22 und wollte vor seiner Créperie Außengastronomie beantragen, aber nicht mit Stühlen auf dem Parkplatz, wie das üblich wäre, sondern mit seiner alten Renault Estafette.

Hippe Idee, aber wir sind in Köln …

Da können die Leute auf der niedrigen Ladefläche sitzen, sowas habe er schon mal in Berlin gesehen. Hippe Idee, aber wir sind in Köln. Ich sag »Jung, ich jeh für dich zum Amp. Gib mir Zeichnung, Plan und Foto.« Ich dahin, den Umschlag kaum ausgepackt herrschte mich eine alte preußische Gouvernante an: »Das geht nicht!« Ich sage, »Genau so hab ich mir dat hier vorgestellt. Ich bin doch ihr Kunde, wieso kieg ich eigentlich keinen Kaffee angeboten?« »Der Antrag kostet 500 Euro und ich muss Sie warnen, dass das keinerlei Aussicht auf Erfolg hat. Wenn das jeder machen würde, dann stünde da ein Auto neben dem andern.« »Ja«, sag ich, »genau wie jetzt auch.«

Köln-Zollstock und der freundliche Nachtwächter in Orange passt auch tagsüber auf

So viel Dummheit wie bei den AvO gibt’s in keinem Tierpark. Da wird jede Eigeninitiative im Keim erstickt. »Wenn sie einmal mit der Stadt Köln zusammengearbeitet haben, kapieren Sie, warum das mit der DDR nicht funktionieren konnte«, damit hab ich die Schabracke provoziert. Auf dem Flur sortierte ich dann meine Zettel und hörte durch die Tür: »So ein Arschloch!« Ich mach die Tür wieder auf und sag: »Das ist aber nett, wie sie über Ihre Kunden reden!« Ja, äh, damit sei ein Kollege gemeint.

Die Arschlöcher vom Ordnungsamt

Aha! Wenn die sich schon untereinander so nennen, ist es also amtlich, was die Kölner so oft sagen: Die Arschlöcher vom Ordnungsamt. Aber Köln ist nicht komplett voll Panne, denn die AvO sind nicht überall. Immer schon zeigte Kölle am Ring seine rheinische Seele, wenn die preußisch pingeligen Ordnungskräfte in den Seilen hingen. Die Kölner Box-Legende Peter Müller schlug einst den Berliner Ringrichter Pippow k. o., nachdem dieser ihn wegen Klammerns ermahnte und ihn nach eigenen Angaben einen »Zigeuner« nannte. »Da han ich ihn usjeknock.« Eine lebenslange Sperre war die Folge.

Es ist bizarr hier, denn hier stehen Autos – gar nicht mal so alt – überwuchert mit Gestrüpp. Man sagt, in manchen wohnen sogar Menschen. Hier ist auch die Heimat des »Amadeüs Speed Shop«, in dem Jürgens Emme steht

Doch – glückliches Köln – nach zehn Monaten wurde diese wieder aufgehoben. Wegen seiner gebückten Kampfhaltung hieß der fünffache Deutsche Meister für die Kölner nur »die Aap«, der Affe. Die Familie von Müller hatte in Köln-Zollstock einen Gemüseladen und meine Mutter ging dort einkaufen. Ich mochte kein Gemüse, aber es war schön, in diesem Viertel aufzuwachsen. Durch den »Show me your Garage« in der CUSTOMBIKE entdeckte ich, dass die mir wohlbekannten Bruchbuden der Nachkriegszeit dort immer noch stehen und sich da die Garage des »Amadeüs Speed Shop« eingerichtet hat.

Die Kölner haben übrigens für den Dom 600 Jahre gebraucht

In deren Favela steht nun seit über einem Jahr meine MZ und – das sagt selbst die Chefredakteurin der CUSTOMBIKE – »die wird richtig gut! So was sehe ich.« Eines Tages, die Kölner haben übrigens für den Dom 600 Jahre gebraucht, und wenn es dieses Magazin bis dahin noch gibt, zeigen wir euch die Emme. Ein paar Viertel weiter nördlich liegt Köln-Ehrenfeld. Bei 4711 ging ich dort in die Lehre als graphischer Zeichner und war werbetechnisch für das Parfum »Tosca« zuständig. »Mit Tosca kam die Zärtlichkeit« – der Spruch ist von mir, das war damals schon Kabarett.

Es gab schon viele, die beim Anblick von Peter Kaups Motorrad-Sammelsurium feuchte Augen und weiche Knie bekommen haben. Auch Designer Jens vom Brauck kommt hier zum Stöbern her, so manches Teil schleppte er schon auf die Schäl Sick, Kölns andere Rheinseite. Hier lässt es sich heute vortrefflich ausruhen

Denn mit Tosca kommt nicht die Zärtlichkeit, das ist ja eher ein Verhütungsmittel. Parfum aber ist für mich der Zweitaktduft meiner russischen Minsk, eines der vielen Derivate der DKW RT 125, immerhin das meist kopierte Motorrad der Welt. Es gab sie auch als Harley, BSA, MZ und Yamaha. Meine Freunde Frank und Bodo Krull in Wustrow haben sie mir zum Bobber umgebaut, nachdem die Rote Armee die rostige Möhre dort an der Ostsee zurückgelassen hat. Krull & Söhne heißt ihre Motorradwerkstatt und ihr erstes Custombike ist für mich der slawische Bruder der Harley-Davidson Hummer.

Bis zu drei Kölner Stadtteile auf einem Nummernschild?

Dort im Fischland gemeldet, trägt sie das Kennzeichen von Ribnitz Dammgarten. Das kennen heimatbesoffene Kölner nicht und wenn sie fragen, sage ich, das gäbe es jetzt neu bei der Zulassungsstelle, da könne man sich bis zu drei Kölner Stadtteile wählen. Ich entschied mich für: Raderberg Deutz Gremberghoven. Ehrenfeld hat auch hippe Läden und Kneipen, das E-Feld oder die Braustelle, die Spezialbiere herstellt. Das alljährliche Streetfood-Festival auf dem Gelände von »Jack in the Box« muss bald umziehen, hier wird gebaut – das Schicksal jeglicher Subkultur. Freies Gelände wird rar.

Wo früher die Treidelpferde schufteten, schläft man heute auf den Stufen der »New Schäl Sick«, eine große Geste ans Chillen

Doch bleiben wird Peter Kaup, der langhaarige Freak und fantastischste Second-Hand-Händler Europas … und Ehrenfelds. Komplette Motorräder hat er auch, aber jedem Customizer läuft das Wasser in den Beinen zusammen, wenn er auf den unendlichen Gängen und Regalen die Augen über die Fülle der Teile, Tanks und Trommelbremsen treiben lässt. Auch der Kölner Motorraddesigner Jens vom Brauck lässt sich hier inspirieren und greift immer wieder zu. Seine Beute schleppt er dann auf die andere Rheinseite, die Schäl Sick, wie der Kölner sagt. Der Vorläufer des Motorrades war schließlich das Pferd, und damit wurden selbst Schiffe stromaufwärts gezogen.

Eine große Geste ans Chillen …

Die Treidelpferde auf dem rechten Ufer wurden durch Scheuklappen blind – op kölsch »schäl« – gemacht, damit die Sonne im Süden sie nicht verblendete. So hatte das rechtsrheinische Köln seinen Namen weg, die Schäle Seite. Wo früher die Treidelpferde schufteten, schläft man heute auf den Stufen der »New Schäl Sick«, eine große Geste ans Chillen. In den Industriebrachen der Schäl Sick hat auch Jens seine Schmiede. Dass seine Werke mit zum Besten zählen, sieht heute jeder Blinde!

Der Herr Otto erkannte das Potential von Lenoirs Motor und fand die richtigen Kniffe, deshalb gibt’s jetzt vor dem Deutzer Bahnhof Geschichtsstunde

Auch sein Nachbar Boris Sieverts, der dort eine Boulehalle eröffnet hat. Eigentlich ist er Stadtplaner und greift immer wieder die Kölner Politik an: »Eine Stadt braucht das Grobe!« Sein Plädoyer gegen das reine Hochglanz-Köln unterschreibt auch Merlin Bauer, der Köln mit seiner Aktion »Liebe deine Stadt« vor der Selbstzerstörung bewahren will. Seit über zehn Jahren weist er auf die Qualität der Bauten aus den 50er  und 60er Jahren hin und erhielt dafür den Architekturpreis der Stadt Köln. Auch bei Autos und Motorrädern hat sich schon längst eine Fangemeinde gebildet, die sich um den Erhalt der Designikonen dieser Epoche kümmert.

Köln brachte einst viele Motorradmarken hervor

Niemand würde eine Vincent Black Shadow in die Schrottpresse schmeißen. Bei der Architektur jedoch ist noch die finanzstarke Abrissbirne der Stärkere. Wie überhaupt Köln nach dem Krieg mehr Häuser verloren hat als durch den Krieg, denn was den Bomben nicht gelungen, schafften Banken und Versicherungen. Auch dass Köln einst viele Motorradmarken hervorbrachte, ist kaum noch jemandem bewusst. Ein Beispiel ist »Esch«, das Motorrad aus der Kölner Südstadt. Ungefähr dort, wo sich heute die Auffahrt zur Severins-Brücke befindet, wurden von Adolf Esch hochwertige Sportmotorräder gebaut.

Sieberts Boulehalle punktet übrigens mit einem prachtvollen Hochbeet auf dem Vorplatz

Oder die in Köln ansässigen Lindenthaler Metallwerke. Ihre Motorräder hießen bereits KLM, da kannte KTM noch keiner. Am bekanntesten ist aber bis heute »Imperia« aus Köln-Kalk, auch wenn die Marke später nach Bad Godesberg umzog. Kaiser Wilhelms Schwester Viktoria von Preußen fuhr einst mit ihrem 35 Jahre jüngeren Lover auf einer 1925er Imperia SS 750 aus Kalk. Das Motorrad ist wegen der Provenienz legendär, gilt aber als verschollen. Im Deutschen Museum in München steht das Spitzenmodell, die Imperia Rheingold.

Der Wert der Imperia ragt weit in den sechsstelligen Bereich

Dieses Jahr musste für eine Imperia-Ausstellung der Transport ins Rheinland mit einer Kunstspedition organisiert werden, da der Wert der Maschine weit in den sechsstelligen Bereich ragt und anders keine Versicherung dafür aufkommt. Aber mit Kunst kennt der Kölner sich aus, denn die größte Kunstspedition der Welt ist hier zu Hause: die Firma Hasenkamp. Wie schwer der Job sein kann, zeigt das Werk von Wolf Vostell, der seinen fahrtüchtigen Opel Kapitän  P 2,6, Baujahr 1960 mit dem amtlichen Kennzeichen K-HM 175 auf der Domstraße in einer Parklücke vor der Kunstgalerie Art Intermedia verschalt und in Stahlbeton eingegossen hat.

Kultur findet in Köln gern mal bei »Motorrad Lust« statt. Hier trat auch schon Ausbilder Schmidt auf: »Was haben eine Ehefrau und eine Handgranate gemeinsam? Ziehst du den Ring ab, ist das Haus weg!«

Die 15 Tonnen schwere Plastik wurde unter anderem in Paris und vor der Berliner Nationalgalerie ausgestellt. Seit 1989 steht sie auf dem Mittelstreifen des Kölner Hohenzollernrings. Hier, in der beliebten Kneipenszene des belgischen Viertels, wird gefeiert. Oder man erfreut sich im Halmackenreuther am Design der 60er. Die Aachener Straße bietet die bunteste Szene des belgischen Viertels. Fast alle Lokale heißen »Schmitz«. Aber auch die Ingenieurskunst gehört zu Köln wie Karneval und Kölsch. 1864 war Nicolaus August Otto zusammen mit Eugen Langen Mitbegründer der weltweit ersten Motorenfabrik »Otto & Cie« in Köln, aus der 1872 die Gasmotoren-Fabrik DEUTZ AG wurde.

Ottodenkmal mit Ottomotor auf Ottoplatz

Technischer Direktor war Gottlieb Daimler, der Wilhelm Maybach als Leiter der Motorenkonstruktion engagierte. Otto entwickelte hier den Viertaktmotor, weshalb die Kölner ihm ein Denkmal setzten. Vor dem Deutzer Bahnhof: Ottodenkmal mit Ottomotor auf Ottoplatz. Überzeugten Harleyfahrern muss damit klar sein: Ohne Köln würde es unter euch duften und knattern wie bei meiner Minsk. Mein Zweitakter wurde von Étienne Lenoir erfunden und ist noch ein paar Jahre älter. Vermutlich, weil ihnen mein Rängdängdäng erspart bleibt, lieben Harleyfahrer Köln so sehr, dass jährlich Abertausende dorthin pilgern. Aber ehrlich: Das Event »Harleydome Cologne« wird von Christoph Kuckelkorn, Mitglied des Festkomite Kölner Karneval und Zugleiter des Kölner Rosenmontagszuges, organisiert. Oder besser: wurde. Denn seit Corona, hat sich’s ausgeharleydomet.

Liebe Deine Stadt – das Gebot für jeden echten Kölner

Im Hauptberuf ist er allerdings Bestatter, nichtsdestotrotz ist er als Zugleiter im Karneval bestens geeignet ist: Er kennt sich aus mit geschmückten Wagen. Am liebsten aber wäre er Harleyhändler, denn als Bestatter gäbe es auch da Synergien. Sein Slogan: Du entgehst nur Gottes Zorn in einem Sarg von Kuckelkorn. Dass der offizielle Karneval und seine Prunksitzungen in Köln oft so scheiße und öde waren, war mein Glück und die Tür zum Kabarett. 1984 erfand ich mit Freunden die »Stunksitzung« und präsidierte als Punker mit Irokesenschnitt auf dem Elferrat.

Die Rosinen im Erbrochenen des organisierten rheinischen Frohsinns

Wir waren alle Anfang 20 und sahen uns als die Rosinen im Erbrochenen des organisierten rheinischen Frohsinns. Schließlich erklärten wir den Karneval für »Instand-besetzt«. Heute kommen über 60 000 Jecken zu den 55 satirisch-drastischen Stunksitzungen im Mülheimer E-Werk und spiegeln in den Rhythmen der Rockmusik die Entwicklung aller Subkultur: Entweder müssen sie umziehen oder sie etablieren sich. Jens vom Brauck muss umziehen und etabliert sich. Und was will man dem Vater anderes wünschen. Kölner sagen es drastischer: »Hä muss zwei Aaschlöcher am drieße hale!«

Zu Besuch bei Jens vom Brauck, JvB Moto, wo Kölns schönste Motorräder gebaut werden

Oft bewundere ich seine meisterhaften Umbauten bei meinem Freund Lu in der Südstadt. Dort, am Bonner Wall bei Motorrad Lust, bringt Jens sie durch den TÜV, was nicht immer einfach ist. Ich erheitere den Prüfer vorher mit Kabarett, denn regelmäßig müssen dort alle Motorräder der Bestuhlung weichen, denn »Escht Kabarett« im Motorradladen ist immer ausverkauft. Dann stehen Comedians wie Ingrid Kühne dort, wo noch vorher eine Guzzi thronte.

Köln ist ein rheinisches Biotop für Bekloppte

Nachdem Cindy aus Mahrzahn aufgehört hat, ist Ingrid Kühne die schwergewichtigste Frau der Branche: »Mein Mann fährt auch Motorrad. Ich sag, nimm mich doch mal mit! Er meint ne, er kriegt die Lampe nicht so weit runter.« Ja, es stimmt. Köln ist ein rheinisches Biotop für Bekloppte, also genau das Richtige für mich. Obwohl ich auch Westfalen mag. Mein Kollege Erwin Grosche aus Paderborn schrieb einst einen Satz, der im Positiven wie im Negativen eigentlich für jede Stadt gilt: »Der schlechte Ruf der Hölle liegt nicht an dem Ort, sondern an den Leuten dort.«

Infos | jvb-moto.commotorrad-lust.de 

 

Jürgen Becker