Moto Guzzi kurvt seit 100 Jahren wie ein Alpinist durch die Motorradlandschaft: rauf und runter und manchmal am Abgrund. In Mandello geht’s nicht einfach auf der Erfolgsautobahn geradeaus. Umso mehr Hingabe zeigen die Liebhaber der Marke über alle Generationen hinweg.

Aus 100 Jahren Moto Guzzi ließe sich viel erzählen: von der ersten Benzineinspritzung (1939), dem ersten Windkanal (1950) oder dem ersten Integralsystem mit drei Scheibenbremsen (1971). Die Marke baut seit 1921 Motorräder – mit ein, zwei, drei, vier und acht Zylindern, Reihen- oder V-Motor, längs oder quer eingebaut, Zwei- oder Viertakter, Arbeitstier oder Rekordmaschine. Damit darf der Jubilar in seiner ersten Lebenshälfte als der experimentierfreudigste und vielfältigste Motorradhersteller gelten. Da jedoch die Serienware konservativ erscheint, lässt sich das Phänomen Moto Guzzi eher begreifen wie ein Pizzateig: Ein vertrautes Rezept, das durch variable Zutaten immer wieder anders schmeckt, ob als schnelle Le Mans oder lässige California zubereitet. 

Zeitzeuge: Der allererste Windkanal einer Motorradfirma weltweit

Wenn nun im Jahr 2020 die Enduro V85 TT das meistverkaufte italienische Motorrad in Deutschland stellt und Asphaltfeilen wie eine Ducati Panigale hinter sich lässt, dann übertrumpft wieder mal das Herz die Höchstgeschwindigkeit. Denn Moto Guzzi erzählt vor allem von Freundschaft, von Liebe samt Leid, von Heldenmut bis zur Verzweiflung. Der Traum vom eigenen Motorrad beseelt den jungen Techniker Carlo Guzzi schon, als er im Ersten Weltkrieg das Flugzeug von Giorgio Parodi wartet. Beide dienen in derselben Staffel wie der bekannte Motorradrennfahrer Giovanni Ravelli. 

Am 15. März 1921 gründeten Carlo Guzzi und Giorgio Parodi die »Società Anonima Moto Guzzi«

Also treibt die drei Freunde ihr Benzin im Blut derart an, dass nach Kriegsende Carlo Guzzi in Mandello mit Hilfe des örtlichen Schmieds Giorgio Ripamonti die Arbeit an seinem ersten Motorrad beginnt. Dessen liegender Viertakt-Einzylinder mit 500 ccm und großem Schwungrad wird stilbildend bis in die 1970er. Doch noch vor der Fertigstellung verunglückt Ravelli bei einem Testflug im August 1919 tödlich. Ihm zu Ehren fliegt der Adler im Firmenzeichen, als am 15. März 1921 die »Società Anonima Moto Guzzi« gegründet wird. Und wie der Adler sind bis heute der erste Eigenbau und die historische Schmiedewerkstatt in Mandello del Lario zu besichtigen.

Die neue Firma erlangt schnell Bekanntheit, gewinnt 1924 die erste Europameisterschaft und avanciert zum größten Motorradhersteller Italiens. Carlos Bruder Giuseppe Guzzi entwickelt 1928 eine zukunftweisende Hinterradfederung, mit Dreiecksschwinge und unter dem Motor liegendem Federpaket. Ihre Zuverlässigkeit beweist er mit einer Fahrt zum 4000 Kilometer entfernten Nordkap über unbefestigte Straßen. Und ihre sportliche Überlegenheit demonstriert Stanley Woods mit seinem Sieg bei der Tourist Trophy 1935.

Entsprechend wachsen Fabrik und Belegschaft, so dass 1939 der junge Technische Zeichner Umberto Todero von Fiat abgeworben wird. Er arbeitet fast 70 Jahre für Moto Guzzi, bis zu seinem Tod 2005 im Alter von 82 Jahren! Ab 1951 Leiter der Rennabteilung, verantwortet er mit Chefingenieur Giulio Cesare Carcano die legendäre 500 V8, führt ab 1964 die Entwicklungsabteilung und wirkt noch 2002 an der aufregenden MGS-01 mit. »Mein Vater sagte oft: Ihr werdet mich noch auf dem Friedhof fragen, was zu tun ist«, erzählt heute sein Sohn Giuseppe Todero, genannt Pino. Wie sein Vater Technischer Zeichner, vollendet er mit ihm 1995 den Aufbau einer der V8-Rennmaschinen. Im Wohnzimmer zeigt er uns ihre Konstruktionszeichnungen, die sein Vater 1987 noch einmal neu anfertigte.

Die V8-Renmaschine wurde für den Kampf um die WM 1955 geschaffen

Für den Kampf um die Weltmeisterschaft 1955 geschaffen, bilden acht 62 ccm kleine Brennräume 498 ccm Gesamthubraum. »Außer Carcano und meinem Vater arbeitete daran noch Enrico Cantoni.« Die drei nutzen Bewährtes, wie die einstellbare Kurzschwinge vorn, und schaffen Neues, wie den Zentralrohrrahmen als Öltank. Die Hinterradschwinge lagert im Magnesium-Gehäuse, das die untere Hälfte der Zylinderblöcke einschließt, aus denen jeweils zehn Stehbolzen ragen: für die oberen Hälften mit den Köpfen. Diese tragen acht 20-mm-Dell’Orto-Vergaser.

Historische Aufnahme vom schnellen Kurs in Francorchamps mit Fahrer Keith Campbell.

Je zwei obenliegende, zahnradgetriebene Nockenwellen steuern 16 Ventile, zwischen denen 10-mm-Kerzen sitzen, jede mit eigener Zündspule und Unterbrecher. Der Primärtrieb bedient eine offene Trockenkupplung, die zuerst auf sechs, später auf vier Gänge wirkt. »Der V8 erscheint komplex, ist aber simpel konstruiert«, gibt Pino zu bedenken. »Er braucht bloß eine spezielle Prozedur beim Zusammenbau, wobei die Vergasermontage trickreich ist. Für die Revision war nur ein Mechaniker zuständig. Er konnte den Motor innerhalb einer Nacht ausbauen, überholen und alles wieder zusammensetzen.« 

Moto Guzzi Otto Cilindri: »Die Fahrer hatten Angst vor ihr«

Komplett mit allen Betriebsstoffen wiegt die V8-Guzzi unter 163 Kilo und leistet 80 PS bei 12.500 /min. Doch äußert sie launisches Fahrverhalten. »Die Fahrer hatten Angst vor ihr«, weiß Pino. »Am besten kam Bill Lomas damit zurecht.« Der Engländer erzielt auf der Autobahn bei Terracina einen neuen Weltrekord, mit einem Durchschnitt von über 243 km/h und 282 km/h Spitze.

Die V8-Rennmaschine und ein zweiter Motor stehen im Werksmuseum. Eng geht’s zu mit acht Vergasern, Auspuffrohren und vier obenliegenden, über ein zentrales Zahnrad angetriebenen Nockenwellen

Die Rennerei endet 1957, und heute existieren noch drei fahrbereite Maschinen: das Exemplar von Giuseppe Todero, eines bei Sammy Miller in England und das Exponat im Guzzi-Museum. Doch während im Werk das Dornröschen schläft, lässt Pino seine Schönheit jubeln – ob 1998 in Assen, 2011 in Hockenheim oder 2016 beim australischen Bike Bonanza. Und sie wird ganz sicher auch ihr Ständchen singen, wenn 2021 ganz Mandello das Jubiläum feiert.

California Dreaming

Ende der 1950er überrollen die Wohlstandsautos das Motorradgeschäft, und zwei Jahre nach Carlo Guzzis Tod gerät die Firma 1966 unter staatliche Kontrolle. Carcano verlässt das Werk und Lino Tonti kommt. Der frische Ingenieur baut eine moderne Sport-maschine, deren »Tonti-Rahmen« Geschichte schreibt und von der V7 Sport bis zur Bellagio 1100 viele Jahrzehnte gepflegt wird. 

Alles beginnt 1969 mit dem Rückenwind von 19 Weltrekorden in Monza und einem blühenden Amerikageschäft. So gestärkt, präsentiert Guzzi auf der Mailänder Messe 1971 mehr neue Modelle als jeder andere Hersteller und bietet erstmals Cafe Racer und- American Cruiser ab Werk. 

Im Klartext: Wir feiern auch 50 Jahre Guzzi California. Die erste V7 750 California debütierte sogar schon 1970, als das neue Dienstkrad des Los Angeles Police Department bei uns unter »California« vermarktet wurde. Doch bald folgt gezielt für Europa die stilprägende V 850 California und 1975 die 850-T3 California.

Von dieser Ära zwischen Woodstock und Punkrock weiß Bernd Schwarz ein Lied zu singen. Denn der Musiker genießt auf seiner V 1000 California II von 1986 dieses leichte Kribbeln in den Fußsohlen, die über große Trittbretter tanzen können. »Die California Zwo gefiel mir sofort«, erinnert sich der Heilbronner.

Die Cali glänzt noch immer im ersten Lack und Chrom

Als er seine Band gründet, verguckt er sich zugleich in diese wohlklingende Maschine und pflegt seither seine Cali, die noch immer im ersten Lack und Chrom glänzt. Nur ihre serienmäßigen Koffer sind inzwischen gegen jüngere ausgetauscht.

Wie ihre Vorgänger trägt die California II Trittbretter, Schaltwippe, ausladende Sturzbügel, Windschutzscheibe und Koffer. Auch der zweifarbige Sattel findet sich nun bequemer gestuft für zwei Personen. Der Westernlenker folgt dem Zeitgeist der 1980er, doch gegenüber den ersten Softchoppern aus Japan taugt die Moto Guzzi als ernsthafte Langstreckenmaschine. Wird ihr Gaszug gespannt wie eine Gitarrensaite, trommeln 88er Kolben im 78er Hub zum Galopp von rund 70 Pferden. 

Besser als der Ruf: Lack und Chrom sind nach 35 Jahren noch immer original

»Reisen mit der California bereiten echte Freude«, erzählt Bernd. »Bei Urlaubstouren zeigt sie immer wieder ihre Stärken. Voriges Jahr war ich mit ihr in Bilbao – auf dem Hinweg über Alpenpässe in Richtung Nizza und anschließend über die Pyrenäen, auf dem Rückweg durch Zentralmassiv und Jura. Tolle Landschaften. Ich war alleine unterwegs und hatte mit der 35-Jährigen zwar kleine Pannen, traf aber hilfsbereite Menschen.«

Ein echter Cowboy trennt sich eben nicht vom Sattel und seinen Stiefeln

Ein offener Helm lässt andere sein freundliches Gesicht erkennen, und lachend zeigt der Reiter auf sein altgedientes Schuhwerk: »Diese Daytona-Stiefel habe ich schon seit damals.« Ein echter Cowboy trennt sich eben nicht vom Sattel und seinen Stiefeln.

2018 entwirft Ulfert Janssen von Gannet Design in der Schweiz für Vanguard Clothing die V850 Master of Endurance

Besonders anziehend wirkt Moto Guzzi auf Vanguard Clothing: Die junge Bekleidungsmarke aus Amsterdam verknüpft ihr V-Signet mit den berühmten V-Motoren und animiert Customizer, Maschinen aus Mandello passend zu den Textilien umzubauen. So entstanden Unikate wie 2018 die Master of Endurance, gestaltet von Gannet Design in der Schweiz.

»Es geht um ein simples Motorrad, bereit für alle Arten von Gelände«

Und 2020 siegt Luuc Muis mit seiner V85 TT Scrambler. Der Niederländer hat sich bereits mit dem Umbau einer 2019er Indian Scout einen Namen gemacht und nutzt sowohl altes Handwerk als auch modernes 3D-Modeling, um seine Vorstellungen umzusetzen. Indem er die Elektronik der italienischen Enduro reduziert, die Gabelabstimmung ändert und hinten ein TFX-Federbein montiert, schält er ihren rustikalen Charakter heraus. »Es geht um ein simples Motorrad, bereit für alle Arten von Gelände«, erläutert der Schöpfer. »Dazu braucht die V85 TT eine kleine Diät.«

Bei Luuc Muis’ Scrambler V85 TT ist nichts, wie es scheint. Den angedeuteten Tank zieren Holzstücke, das wirkliche Spritfass liegt unterm Sitz

Deshalb entfernt er alles bis auf die blanken Rahmenknochen und formt darüber einen schlanken Körper mit Durchblick: Seine originelle Tankattrappe zieren laminierte Holzstücke, die zu den Holzknöpfen der neuen Jeans passen. Zusammen mit dem frei schwebenden Heck erzeugt er so ein extrem luftiges Design, während der Benzin-behälter unter den Sitz wandert. »Dabei bleiben 95 Prozent des Rahmens serien-mäßig«, betont Luuc. Mit winzigem Motogadget-Instrument und LED-Leuchten gelingt ihm ein futuristischer Scrambler.

Das Originalrezept

Weiter tapfer der Globalisierung trotzend, kommt eine Moto Guzzi nicht aus China, Indien oder Thailand, wo andere europäische Marken produzieren, sondern verkörpert eine waschechte Italienerin. Zwar dient die einst stolze Fabrik nur noch zur Fertigung, während Aprilia entwickelt und Piaggio entscheidet. Auch verdienen inzwischen daran Investoren und Manager, deren Funktionen mitunter so undurchsichtig sind wie die milchigen Scheiben der verwitterten Hallen. Sie wissen dieses Potenzial nicht zu nutzen, sondern gelen sich lieber die Haare. 

Die MGS-01 wurde leider nur in Kleinserie als reiner Racer gebaut. Einige Exemplare wurden von Guzzi-Händlern jedoch für den Straßenbetrieb getüvt

Doch noch heute kommt jede Serienmaschine direkt aus der Via Parodi 57 in Mandello del Lario, wo vor 100 Jahren Giorgio Parodi und Carlo Guzzi den Grundstein des Werks setzten. Moto Guzzi lebt und bleibt authentisch – Gratulation!

Info | www.motoguzzi.com

 

 

Stephan H. Schneider