Wenn das British Empire im Hinduismus überlebt, dann ist das Rad der Geschichte fahrbar. Wir zeigen’s mit dieser Royal Enfield Bullet

Im beschaulichen Bernau am Chiemsee brüllen seit Jahren mächtige V8-Monster und verwegene Hot Rods. Auch unterschiedlichste Harley-Mutationen wurden schon gesichtet. »Meist als Bobber«, verrät Customizer Simon Minckwitz. »Ich möchte jetzt wieder mehr Motorräder bauen.«

Royal Enfield Bullet mit englischen Papieren

Denn schon seit den 1990ern in der Szene aktiv, hatte er Bikes eine Weile etwas stiefmütterlich behandelt. Als Simon dann bei E-Bay den Rahmen einer Royal Enfield sah, bekam er Lust, »einfach mal bewusst nichts Amerikanisches auf die Räder zu stellen«. Also kaufte er das nackte Gerippe, das diverse englische Papiere mit dem Baujahr 1954 auswiesen, was viel Gestaltungsspielraum gewährt.

Englischer Rahmen, indischer Motor, US-Chopper-Style und bayerisches Finish: Die Herkunft der Enfield lässt sich nicht klar bestimmen

Einen tauglichen Motor dafür aufzutreiben, war keine unlösbare Aufgabe, schließlich wird Royal Enfield noch immer gebaut. Ist es nicht ein Treppenwitz der Geschichte, dass die einst glorreiche Motorradindustrie des englischen Imperialismus ausgerechnet in einer ehemaligen Kolonie überlebt hat? Und das auch noch mächtiger denn je.

Riesige Nachfrage in Asien

Während 1967 in Redditch die Lichter ausgingen, versuchten die Inder im Werk in Madras – heute Chennai – die riesige Nachfrage des zentralasiatischen Marktes zu befriedigen. Royal Enfield verkauft in Indien immerhin jährlich mehr Motorräder als in Deutschland alle Hersteller zusammen.

Club Zentral: Die Schaltarmaturen befinden sich in Lenkermitte

Simon setzt also aufs richtige Pferd: »Inzwischen habe ich noch weitere alte Rahmen, von 1936 und 1944, in die bald moderne Motoren kommen. So wird ein Board Tracker aufgebaut, mit dem ich in Budapest starten will.« In der ungarischen Hauptstadt gibt’s nämlich eine Bahn für diesen traditionsreichen Motorsport, doch das ist eine andere Geschichte.

Royal Enfield Bullet im Starrrahmen

Also zurück zum Chopper. Zu dessen reiner Lehre gehört ein Starrrahmen, der für die königliche Engländerin aber gar nicht so selbstverständlich ist, wie der Unbedarfte glauben könnte. Denn zu Beginn der 1950er Jahre bot Royal Enfield mit einer Hinterradschwinge mit hydraulisch gedämpften Federbeinen das modernste britische Fahrwerk und verzeichnete entsprechende Erfolge im Geländesport.

Royal Enfield ist die älteste produzierende Motorradmarke, gegründet 1880 als Fahrradhersteller, mit dem ersten Motorrad 1901. Wie ein Fahrrad fährt sich auch der eindimensionale Rohrstuhl mit gusseisernem Einzylinder. Kein amerikanisches V8-Gebrüll, sondern die Gelassenheit eines indischen Wasserbüffels

Seit jenen siegreichen Tagen hat sich jedoch am Grundkonzept nicht viel geändert, so dass sich die indischen Motoren in englischen Rahmen wie zu Hause fühlen. Für sein Gestell des Modells G hat Simon den 1980 gefertigten Einzylinder vorm Einbau innerlich überarbeitet, mit Ariel-Kolben, Doppelzündung, nitrierten Ventilen oder feingewuchteter Kurbelwelle.

Der alte Eintopf

Doch äußerlich ist der Eintopf ganz der Alte – Gehäuse, Primärtrieb und Getriebe sind original. Wie überhaupt das Getriebe konstruktiv zu den ältesten Komponenten der Enfield zählt, basierend auf dem Räderwerk der 1930er Jahre. Der Langhuber mit Gusszylinder und seiner zerklüfteten Steuerseite erzeugt 17 Pferdestärken und dominiert die Optik der spartanischen Fahrmaschine.

»Die Optik von Sissybar, Iron-Cross-Rücklicht und gedrehtem Z-Lenker sehe ich als Reminiszenz an die Siebzigerjahre.«

Deren minimalistischer Rahmen trägt lediglich einen Bates-Einzelsitz und TWA-Tropfentank. Die luftigen Speichenräder werden von unauffälligen Halbnaben-Trommelbremsen verzögert, als Abdeckung genügt ein leichtes Alu-Schutzblech hinten. »Die Optik von Sissybar und gedrehtem Z-Lenker sehe ich als Reminiszenz an die Siebziger-Jahre«, erklärt der Südbayer seine Wahl der Accessoires.

Fußrasten in Originalposition

Iron-Cross-Rücklicht und verchromte Aris-Lampe fügen sich in dieses Bild, ebenso die provokant hochgezogene Auspuff-Trompete und verchromte Tauchrohre, während die Fußrasten noch ganz an englischer Originalposition sitzen. Müssen ja nicht immer Vorverlegte sein.

»Die Optik von Sissybar, Iron-Cross-Rücklicht und gedrehtem Z-Lenker sehe ich als Reminiszenz an die Siebzigerjahre.«

So hockt der Reiter in meditativer Haltung, schaltet die vier Gänge nach Vorväter Sitte mit dem rechten Fuß, schwenkt lässig den leichten Feuerstuhl um seinen Schwerpunkt. Der Motor atmet frisches Leben durch den offenen Amal, reduziert auf die Essenz von Motor und Rad. Diese 350er Royal Enfield ist sozusagen der Yogi unter den Choppern.

 

Stephan H. Schneider