Wilde Konstruktionen sind bei den jährlichen Speed Trials auf dem Salzsee von Bonneville normal. Der 500 Kubik-Rotax-Einzylinder von »Super Rat« macht da keine Ausnahme.

887 Meilen, das entspricht 1.428 Kilometern, sind nach europäischen Maßstäben und Benzinpreisen eine hübsche Strecke – im kontinentalen Denken der Amerikaner eher ein Ausflug um die Ecke. Bellingham im US-Bundesstaat Washington liegt nahe der kanadischen Grenze, und Vancouver ist näher als Seattle. Um von dort auf die Salt Flats in Utah zu kommen, müssen die Brüder Mark und Carl Bjorklund einen über dreizehnstündigen Nonstop Trip durch Oregon und Idaho machen, dann erst signalisieren die Neon-Statue von »Wendover Will« und das Blinken der Casinolichter die Ankunft in Wendover/Nevada.

Der Planet scheint plötzlich kleiner

Wer über den letzten Pass rollt, bekommt einen beeindruckenden Blick auf die Ebene der Bonneville Salt Flats. Interstate und transkontinentale Eisenbahnstrecke zerschneiden das Gebiet und erstrecken sich bis zum Horizont. Schienenstrang und Asphaltband scheinen über einen sanften Hügel zu führen, tatsächlich ist es die Erdkrümmung, die hier auf etwa 40 Meilen sichtbar wird – und plötzlich den Planeten viel kleiner erscheinen lässt, als man bisher dachte.

Schmal und ergonomisch: Die Fußrasten nach hinten, der Fahrer liegt auf der Maschine – allen Salzsee-Racern sind diese Merkmale gemein

Bis zur Interstate 80, Ausfahrt 4, jenseits der Staatsgrenze zu Utah ist dieser Eindruck schon wieder verflogen: Spätestens mit dem »Bonneville Speedway Exit«-Schild schieben sich drängendere Fragen in den Hinterkopf der Bjorklund-Brothers: »Ist unser Bike vorbereitet? Kommen wir durch die technische Abnahme? Haben wir alle Papiere dabei?« Während die Räder die letzten Meilen Asphalt auf dem L-förmigen Zufahrtsdamm abrollen, wird alles Grübeln überlagert durch den Ausblick auf die Bergkulisse im Nordwesten, die nach und nach die typische Salzsee-Silhouette annimmt.

Erfrischend metallisch

Das Orgateam empfängt die Racer und weist ihnen den Weg in das mitten auf der weiten Salzfläche gelegene Fahrerlager. Mark und Carl hätten sich übrigens um die logistischen Fragen nicht sorgen müssen – beide sind langjährig erfahrene Customizer. Ihre Bike-Kreationen heißen »Bent Metal«, »Disshelved«, »Blood Brothers«, »War Crimes« und »Labour of Hate«. Erfrischend metallisch repräsentieren sich die beiden also.

Wer mit Leidenschaft ans Thema Speedweek rangeht, wird schnell und freundlich im Kreis der alten Hasen aufgenommen – egal ob er Rekorde erzielt oder nicht

Nicht fixiert auf die V-Twins aus Milwaukee und mit Ideen jenseits ausgetretener Pfade. Was oft – und gelegentlich auch in diffamierender Weise – als »billige« Art des Customizing verunglimpft wird. Zu Unrecht. Ihr Bonneville-Bike »Egg Salad« ist ein famoses Beispiel für die Leidenschaft der Brüder, Kunst auf zwei Rädern zu erschaffen. Und sorgt für sofortige Akzeptanz bei den alten Rennhasen, mehr noch als gefahrene Rekorde.

Rotax vom Gebrauchtmarkt

Basis für den Racer ist ein abgelutschtes Dirttrack-Bike mit 500 ccm Rotax-Motor vom Gebrauchtmarkt. Vorgestellt in den späten Siebzigerjahren hatte dieser Motor eine lange, erfolgreiche und oft unterschätzte Karriere bei zahlreichen Marken: Sanglas, KTM, MuZ, Armstrong/Harley-Davidson, Harris-Matchless G 80 und die Wood-Rotax Dirttrack-Rennmaschinen für Shorttrack nutzten den Eintopf als Kraftquelle.

Die Zeiten sind nicht schlecht für einen Bonneville-Rookie, reichen aber bei Weitem nicht, um den Rekord von 1978 zu brechen

»Egg Salad« wurde übrigens für die 500-APS-AG-Klasse gebaut, wobei »APS« für »Special Construction Partial Streamlining« (Eigenbau, teilweise verkleidet) und das »AG« für »Modified Gasoline«, also einen getunten Motor mit Normalbenzin, steht. Der österreichisch-kanadische Eintopf – von Renneinsätzen gezeichnet – wird nach Feierabend und am Wochenende komplett überarbeitet, erst knapp zwei Monate vor den Rekordfahrten trifft er sich mit dem Rahmen auf der Werkbank der Rat-Jungs wieder.

Verkleidung eng am Rahmen

Für die Blechteile hat zu diesem Zeitpunkt noch niemand den Hammer gehoben, schließlich brauchen Carl und Mark das komplette »Rolling Chassis«, um die Verkleidung so eng wie möglich um den Rahmen zu legen. Die Entscheidung für eine Blechverkleidung war dazu eine äußerst gewagte Angelegenheit. Nicht wegen des Gewichts – viele Fahrer versuchen zusätzliches Gewicht auf die Maschine zu bringen, um die Traktion auf der ständig wechselnden Salzoberfläche zu erhöhen –, sondern wegen eventuell nach der Abnahme anstehender Änderungen.

Rotax/Super Rat »Egg Salad« – Eiersalat

Eine Plastikverkleidung ist leicht abgeschnitten, Stahlblech ist da eine ganz andere Nummer! Statt wie geplant hölzerne Masterformen zu bauen – was den Vorteil der Reproduktion der Teile gehabt hätte –, hämmern die Brüder alle Parts aus Zeitgründen direkt an das Bike, bis es passt. Tank, Heckteil und die Verkleidung entstehen in Rekordzeit. Die Verkleidung besitzt eine doppelte Außenschale, hinter der strömlinienförmig verkleidet die Sammler der Abgase sitzen.

Vorderbremse überflüssig

Wie bei den meisten Salt Flat-Racern ist der Rahmen starr – eine Tatsache, die hinter den Metallplatten mit der Startnummer »1963« verborgen ist. Vorderradbremsen sind sowohl beim Dirttrack als auch auf dem Salz überflüssig. Die Oberfläche erlaubt weder übermäßiges Bremsen noch große Schräglagen. Die gesplitteten Auslasskanäle des Vierventil-Eintopfs inspirierten zu einer einzigartigen Auspuffführung: Jeder Kanal füttert einen separaten Krümmer.

Rotax/Super Rat »Egg Salad« – Eiersalat

Beide winden sich rechts und links in die Verkleidung, um dort je in einen 1-in-3 Verteiler zu münden. Die resultierende 2-in-6 spuckt die Abgase durch Bohrungen in der Metallverschalung, wie bei einem Propellerflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg. Und bei Fehlzündungen rotzen auch schon mal Flammen aus den Stutzen. Nach Fertigstellung reicht es für Mark und Carl lediglich für ein paar Testfahrten auf abgelegenen Strecken, um Funktionen zu verifizieren. Dann wird das Bike verladen und nach Utah gekarrt.

Gute Zeiten für den Rookie

Carl absolviert einige Läufe bei seinen ersten Speed Trials. Seine Zeiten sind nicht schlecht für einen Salzsee-Rookie, reichen aber lange nicht, um den 1978 aufgestellten Rekord eines B.H. Eriksen auf einer  Yamaha  zu überbieten. Der steht bei beeindruckenden 253,047 km/h.

Rotax/Super Rat »Egg Salad« – Eiersalat

Doch der Trip nach Bonneville diente ohnehin nicht einer Rekordjagd, sondern war als Lernerfahrung geplant. Wie schnell diese Lernkurve war, zeigten sie bei einem anderen Event, als sie mit einer für Bonneville aufgebauten Ducati mit 165 mph den Rekord der 1000 A-AG Klasse knackten – der stand immerhin seit 1975! Aber das ist eine andere Geschichte…

 

Horst Rösler
Freier Mitarbeiter bei CUSTOMBIKE Magazin

Diplom-Ingenieur Horst Rösler ist Jahrgang 1960 und unter seinem Nicknamen »Motographer« seit Jahren einer der wahrscheinlich meistveröffentlichten Bildjournalisten in Sachen Custombikes auf Harley-Davidson- und V-Twin-Basis. Als Plastikmodellbauer seit jungen Jahren, schrieb er von 1979 bis 2009 zunächst als freier Mitarbeiter, später dann als Redakteur für Motorräder für die Fachzeitschrift »Modell Fan« und von 1980 bis 1985 für das Motorradmagazin »Visier«. Seit 1992/93 ist er freiberuflich für deutsche und internationale Custombike-, Harley-Davidson- und Motorradmagazine tätig. Horst ist ein Szene-Urgestein und es gibt wohl kaum ein Event auf diesem Planeten, wo er nicht anzutreffen ist. Sei es als Organisator für Bikeshows oder als Fotograf unter anderem für die AMD World Championship von 2004 bis 2010. Als der »Motographer« ist er weltweit auf verschiedenen Harley-Events unterwegs und spezialisiert auf Randthemen oder zunächst kaum beachtete Newcomer der Customszene. Das bestmögliche Bildmaterial bereitzustellen gehört ebenso zu seiner Passion wie die intensive Suche nach Originalquellen, Zeitzeugen und die Zuordnung von Motorrädern in ihren geschichtlichen Hintergrund, wobei er nicht nur auf Custombikes beschränkt ist.