Minimalismus pur: Custom-Wolf interpretierte einst mit dieser Honda Bol d‘Or im Rau-Rahmen den klassischen Boardtrack-Racer neu

Es ist nun über 100 Jahre her, dass der erste Boardtrack Rennkurs in Playa del Rey gebaut wurde – und doch hat der Motorsport der ersten Jahre nichts von seiner Faszination eingebüßt. Die Rennmaschinen aus der Ur-Zeit des Motorsports waren furchterregende Geschosse: Ein Gang, keine Bremsen, eine Gasgriffstellung: Vollgas!

Einmal ohne Kompromisse

Zum Rennlauf wurden die Maschinen angezogen und angeschoben, bis der hochverdichtete Motor brüllend zum Leben erwachte und aus den Zylinderköpfen – Auspüffe gab’s nicht – Flammen schossen. Nach einer Einführungsrunde hinter dem Pacecar versuchten sich die Fahrer möglichst in die beste Startposition zu manövrieren – die einzige Möglichkeit der Geschwindigkeitsregelung war die Unterbrechung der Zündung.

Altertümlich mutet die Parallelogramm-Gabel an, moderne Komponeten machen sie jedoch zu weit mehr als einer Wackelvorrichtung

Dass die Verlust-Ölschmierung der Motoren, offen laufende Kettenantriebe und austretendes Rennbenzin auf den hölzernen Planken für zusätzlichen Thrill sorgten, dürfte jedem heutigen Motorradfahrer klar sein! Doch es ist die Faszination des Minimalismus, die es den Machern von Custom-Wolf angetan hatte. Nach zahlreichen Extrem-Custombikes sollte es einmal »Motorrad Pur« sein, ein Bike ohne Kompromisse. Und es musste nicht unbedingt ein V-Twin »Made in America« sein, der die moderne Interpretation eines Trackers befeuert.

Rau, aber herzlich

Hondas Bol d’Or Vierzylinder diente schon als Basis für so ziemlich jede Art von Motorrad: Vom Streetfighter zum Sportbike  und sogar als Softchopper in den frühen 80er Jahren. Warum also nicht auch als Boardtrack Racer-Adaption? Zuverlässig, stark und langlebig diente die Bol d’Or Dutzenden von Fahrwerksspezialisten von Egli bis Rickmann als Kraftquelle. Auch das alte Rau-Fahrwerk von 1986 paßt zu diesem Motor, auch wenn Christian die Motorhalterungen optimierte und das Heck entsprechend dem geplanten Heckbürzel verengte.

Ein Meilenstein der Technik war die Bol d’Or auf Anhieb. Wunderbares Triebwerk, leistungsstark und zuverlässig, daran gab und gibt es nichts auszusetzen. Einziger Mangel des Originalbikes war das zuweilen labberige Fahrwerk, die schlechte Straßenlage ein Minuspunkt für die goldene Schüssel. Aber das hat der Custom Wolf ja fleißig geändert. Sicher nicht zum Nachteil des Fahrers

Wie alle Sportfahrwerke, sollte auch der Zentralrohr-Rahmen von Rau dem starken Honda-Motor den Gradeauslauf beibringen – in den 70er und frühen 80er Jahren war es nicht unüblich, dass die gebotenen Motorleistungen die Möglichkeiten der Serienrahmen übertrafen. Ganz im Stil eines „Experimental-Bikes“ verzichtete das Custom-Wolf-Team auf jedwede Lackierung, Klarlack ausgenommen, und beließ auch den Rahmen „bare metal“.

Schwinge hausgemacht

Wo an den echten Boardtrackern das Hinterrad starr aufgehängt war, federt ein Rau-Stoßdämpfer die von Custom-Wolf gefertigte Stahlrohr-Schwinge. Anstelle einer modernen Upside-Down Gabel wird das Vorderrad von einer altertümlich anmutenden Paralellogramm-Gabel geführt, allerdings nadelgelagert und mit modernsten Federungs-Elementen. Die ersten Boardtracker holperten noch mit Blattfedern über die Planken. Der Lenker und die obere Gabelbrücke bilden eine Einheit, die wenigen Züge sind versteckt.

Riesige Perimeter-Bremsscheiben an Vorder- und Hinterrad sorgen einerseits für zeitgemäße Bremsperformance, aber auch für einen betont filigranen Look

Wer nach den filigranen Rad-Designs in Zubehör-Katalogen blättert, kann lange suchen! 1.85 x 19“ vorn und 3.25 x 19“ klingen ebenfalls nach 80er Jahren, und tatsächlich gehörte der Radsatz zur Standardausstattung der Suzuki „Katana“ von 1981. Custom-Wolf adaptierte eigene Perimeter-Bremsscheiben und Braking-Bremszangen. Schließlich sollte das Bike auch mal irgendwann auf der Straße rollen und nicht nur auf abgesperrten Rennstrecken seine Kreise drehen.

XXXXXXXXXX

Tank und Sitzbank stammen aus eigener Fertigung und sind ein Kontrast zu den sonst so perfekt verschliffenen Metall-Arbeiten bei den Custom-Wolf-Kundenprojekten, die von hochklassigen Streetfightern bis zu extremen Harley-Auf- und Umbauten reichen. Die »Farbe« wurde mit der Flamme des Schweißbrenners direkt ins Metall gebrannt, mit mattem Klarlack versiegelt und von Marcus Pfeil mit handgezogenen Pinstripes veredelt. Motorrad pur ist hier angesagt. Die minimalen Anzeigen und Drucktaster zur Bedienung sind in den Lenker eingelassen, der Tacho nur ein Kompromiss für die Straßentauglichkeit. Denn Boardtrack-Rennstrecken gibt es halt leider nicht mehr. Die letzten Holzovale verfaulten in den späten 20er Jahren nach schweren Unfällen, Besucherschwund und Weltwirtschaftskrise. Vielleicht wäre es mal an der Zeit für ein Revival? Auf zwei Rädern!

Info | custom-wolf.de

 

 

Horst Rösler
Freier Mitarbeiter bei CUSTOMBIKE Magazin

Diplom-Ingenieur Horst Rösler ist Jahrgang 1960 und unter seinem Nicknamen »Motographer« seit Jahren einer der wahrscheinlich meistveröffentlichten Bildjournalisten in Sachen Custombikes auf Harley-Davidson- und V-Twin-Basis. Als Plastikmodellbauer seit jungen Jahren, schrieb er von 1979 bis 2009 zunächst als freier Mitarbeiter, später dann als Redakteur für Motorräder für die Fachzeitschrift »Modell Fan« und von 1980 bis 1985 für das Motorradmagazin »Visier«. Seit 1992/93 ist er freiberuflich für deutsche und internationale Custombike-, Harley-Davidson- und Motorradmagazine tätig. Horst ist ein Szene-Urgestein und es gibt wohl kaum ein Event auf diesem Planeten, wo er nicht anzutreffen ist. Sei es als Organisator für Bikeshows oder als Fotograf unter anderem für die AMD World Championship von 2004 bis 2010. Als der »Motographer« ist er weltweit auf verschiedenen Harley-Events unterwegs und spezialisiert auf Randthemen oder zunächst kaum beachtete Newcomer der Customszene. Das bestmögliche Bildmaterial bereitzustellen gehört ebenso zu seiner Passion wie die intensive Suche nach Originalquellen, Zeitzeugen und die Zuordnung von Motorrädern in ihren geschichtlichen Hintergrund, wobei er nicht nur auf Custombikes beschränkt ist.