Es gibt wohl keine Motorräder, die seltener umgebaut werden als jene von MV Agusta. Aufhübschen ist bei den Bikes aus Varese auch kaum machbar. Mit dem Einstieg von KTM dürfte es künftig weiter aufwärts gehen …

Es liegen unruhige Jahre mit zahlreichen Besitzerwechseln hinter dem italienischen Premiumhersteller. Motorradindustriellenlegende Claudio Castiglioni hatte die Marke unter anderem an den malaysischen Autohersteller Proton und an Harley-Davidson verkauft und – nachdem sie neuen Eigentümer Millionen in den Satz gesetzt hatten – für jeweils einen Euro wieder erworben. Zwischenzeitlich war auch die Mercedes-Tochter AMG eingestiegen bevor 2017 der russische Investor Timur Sardarov übernahm.

KTM will die Mehrheit bei MV Agusta

Ende des letzten Jahres stieg schließlich KTM bei MV ein und macht keinen Hehl daraus in Bälde Hauptanteilseigner sein zu wollen. Das kann nur gut für Varese sein, denn KTM-Boss Stefan Pierer ist bekannt dafür, keine halben Sachen zu machen – und hat im Gegensatz zu all den Gescheiterten einen Plan und genaue Vorstellungen, wohin die Reise gehen soll. So wird es entgegen ursprünglichen Planungen keine chinsesischen Einsteigermodelle und auch keine Reiseenduros von MV geben. Pure Sports, High-End und Premium sind angesagt.

Knapp 50.000 Euro kostet die Rush. Dafür gibt’s allerfeinstes Material allerorten, 208 PS aus einem Tausender Four und mehr als 300 km/h Vmax. Das Ganze bei unter 200 Kilo fahrfertig. Aber so richtig hübsch ist die Kiste trotzdem nicht … Geschmackssache!

Diesen Weg hat MV Agusta mit seiner aktuellen Modellpalette bereits eingeschlagen. Vorbei die Zeit, als mit Abstrichen bei Material und Preis eine vermeintlich breitere Basis für die Marke geschaffen werden sollte. Selbst das günstigste Modell, die 112 PS starke Brutale R mit 800er Triple liegt jenseits der 15.000 Euro, für das Top-Modell Rush mit einem 1000er Four und mehr als 200 PS werden knapp 50.000 Euro fällig.

In Varese liefen einst auch die Aermacchi-Harleys vom Band

Die zigfach modernisierte Fabrik in Varese, in der einst auch die Aermacchi-Harleys vom Band liefen, könnte locker 10000 Motorräder jährlich ausspucken. Davon ist man aktuell meildenweit entfernt. Doch wenn KTM die Zügel komplett in die Hand bekommt, wird sich das höchstwahrscheinlich schnell ändern. Und es wäre nicht verwunderlich, wenn in diesem Zuge die Turismo Veloce, das einzige Modell, das kein messerscharfer Sportler ist, eingestampft würde. Adventure-Sport-Tourer hat KTM schließlich selbst im Programm …

Der Grat zwischen Handlichkeit und Nervosität ist bei der Brutale sehr schmal. Oft rutscht man auf die Nervositätsseite ab

Wir hatten vor Urzeiten das Vergnügen, mit der erste Brutale auszureiten. Die Erinnerungen daran sind bis heute so flott abrufbar, wie dieses Motorrad aus seinen vier Pötten kam. Brutal. Rauh. Anders. Unendlich geil! Zuletzt konnten wir die 800er-Triple-Modelle Brutale und Dragster hernehmen – jeweils in der 140 PS starken RR-Version. Das Wort Mittelklasse wäre angesichts des Gebotenen despektierlich. In Sachen Design und Material hat Varese in den letzten Jahren wirklich Gas gegeben.

MV Agusta würde gerne ganz oben über den Dingen thronen

Uns zeigt man eine im Hause entworfene Exklusivitätspyra­mide, in der MV ganz oben über den Dingen thront – gefolgt von einem Mittelbau aus sämtlichen europäischen Herstellern und einer breiten ­japanischen Basis, durchwirkt mit Aprilia, Moto Guzzi und – Benelli. Respekt, gesundes Selbstbewusstein. Das spiegelt sich in den Preisen. Günstige Einstiegsmodelle sind aus dem Portfolio verschwunden, für lau ist keine der Vareser Schönen mehr zu haben. Das hat den Vorteil, dass auch am Finish nicht mehr gespart wird, eine in den Jahren der „Einstiegspreis“-Strategie durchaus wahrnehmbare Tendenz.

Lasst euch von dem Namen Dragster nicht in die Irre führen. Dieser Brutale-Ableger ist eine fahraktive Naked-Bike-Rakete, keine Beschaulichkeit weit und breit

Auch die Ecken und Kanten des Vareser Charakters scheint man nicht mehr schleifen zu wollen. Sie knurren und fauchen und schaben wieder, die Mädels, Respekt gehört ihnen gegenüber zu den ganz selbstverständlichen Umgangsformen. Gut so. Kein Wunder also, dass man den 800ern ebenso den vormals den Vierzylindermodellen der Marke vorbehaltenen RR-Titel verliehen hat. Und der brachte neue Räder, eine aus Aluminium gefertigte ­Marzocchi-Gabel mit DLC-beschichteten Tauchrohren, einen einstellbaren Lenkungsdämpfer und einen Schalt­automaten, der nun ohne Betätigung der Kupplung auch das Runterschalten ermöglicht – was man zunächst nicht zu brauchen meint, dann aber ob verblüffend reibungs­loser Funktion intensiv nutzt.

Der Triple trifft auf 175 Kilogramm trocken

Der Sahneklecks ganz oben auf der RR-Torte aber, das ist der 140 PS starke Dreizylindermotor. Der knurrt und mahlt so beängstigend, dass sich die Konkurrenz möglicherweise ganz freiwillig in den unteren Teil der Hierachiepyramide verzogen hat. Die Performance? Ebenso eindrücklich. Der Triple trifft auf 175 Kilogramm trocken, fahrfertig sind das knapp über 190 Kilos. Bis 9000/min beglückt das Performance-Programm mit einer fleischigen Drehmomentkurve. Ab der Marke aber muss man nicht diskutieren. Bis zur Redline bei rund 13000/min kann das Vorderrad getrost in der Garage bleiben – da ist der Lenkungsdämpfer auf dem Wirtschaftskrisenasphalt der Toskana sehr ­willkommen.

Die Dragster mit etwas niedrigerer Sitzposition und damit auch niedrigerem Schwerpunkt, ihrem etwas näheren Lenker und ihrem breiten 200er-Hinterrad agiert mit der speziell auf sie zugeschnittenen Fahrwerksabstimmung stabiler und satter, weniger hibbelig

Dank doppelter Einspritzdüsen und mehrfach optimierten Mappings haben die MV-Macher die Gasannahme endgültig im Griff, der Triple hängt am Gas wie am Nasenring. Die ohnehin schwer zu findende Balance zwischen Vorder- und Hinterrad der Brutale macht harmonisches Agieren auf miesem Untergrund schwer. Die Dragster mit etwas niedrigerer Sitzposition und damit auch niedrigerem Schwerpunkt, ihrem etwas näheren Lenker und ihrem breiten 200er-Hinterrad agiert mit der speziell auf sie zugeschnittenen Fahrwerksabstimmung stabiler und satter, weniger hibbelig. Angesichts des Raumangebots sollte man aber nicht allzu groß sein. Meine 1,76 Meter waren kein Problem, darüber könnte es schon eng werden mit dem Freiraum. Wer ob seiner Körpermaße nur auf die Brutale passt, sollte aber nicht traurig sein: Er spart knapp 3.500 Euro.

MV Agusta mit innovativem Smart Clutch System

Seit 2020 gibt es bei MV das sogenannte Smart Clutch System (SCS), das den Kupplungshebel mehr oder weniger überflüssig macht. Das vom US-Hersteller Rekluse entwickelte SCS kombiniert eine elektronisch gesteuerte Fliehkraftkupplung mit einem mechanischen Getriebe. Damit geht nun auch Anfahren und Anhalten, ohne dass zum Kupplungshebel gegriffen werden muss. Während der Fahrt benötigt man für den Gangwechsel nur noch den linken Fuß für den Quickshifter. Das System sorgt automatisch für einen sanften Kraftschluss. Funktioniert prima und macht das Fahren wegen nicht vorhandenener Zugkraftunterbrechung nochmal schneller und das Anhalten komfortabler. Wirklich brauchen tut man es freilich nicht.

5,5-Zoll TFT-Display mit voller Connectivity und Smartphone-Integration per MV-App

Zuletzt brachte das Modelljahr 2021 ein Euro 5-Update, einen 5,5-Zoll-TFT-Bildschirm, Kurvenlicht, einen versteiften Rahmen nebst überarbeiteten Fahrwerkskomponenten sowie einen sechsachsigen Sensor für’s Kurven-ABS und die schräglagenabhängige Traktionskontrolle mit sich. Dergestalt kostet die Brutale RR 18.999,– Euro, der Dragster mit SCS satte 22.499 Euro. Zuzüglich Nebenkosten versteht sich.

Info | mvagusta.com

 

Guido Kupper
Redakteur bei CUSTOMBIKE

Guido Kupper, fährt praktisch seit seiner Geburt in grauer Vorzeit Motorrad, hat mit dem Schreiben aber erst angefangen, als er schon sprechen konnte. Motorisierte Zweiräder hat er nur acht Stück zur Zeit, Keller und Garagen sind trotzdem voll. Sein letztes Ziel im Leben: Motorrad fahren und mal nicht drüber schreiben