Harley-Davidson Evo – Hoch Nacken



Diese Harley-Davidson Evo ist nicht nur optisch extrem. Der Highnecker wird tatsächlich als Alltagsfahrzeug benutzt

»Vibes, plural.: amerikanisch umgangssprachlich für Vibrationen; vibrant: pulsierend oder pochend mit Energie, lebhaft, stark; vibrate: schwingen, mit Emotionen, Leidenschaft etc.«, mit diesem Auszug aus dem Wörterbuch beschreibt die erfolgreiche japanische Motorradzeitschrift VIBES ihr Motto, und die Faszination von Harleys.

»Vibes« ist quasi die japanische CUSTOMBIKE

Die Macher von VIBES leben diese Faszination übrigens auch selbst aus. Wir berichteten schon mal vom VIBES-Treffen in Japan. Die Redakteure fahren die 1000 Kilometer von Tokio bis zum Event auf eigenen zwei Rädern an und zelten vor Ort. Richtig authentisch also und nichts mit dickem Spesenkonto, Luxus und modernen japanischen Annehmlichkeiten.

Derber Charme: Den Pflegezustand des Alltags-Choppers kann man getrost als »na ja« bezeichnen

Einer dieser Redakteure ist Munehito Tokunaga. Das ist auch für japanische Ohren etwas zu lang. Kurz und bündig ist da doch ein Spitzname wie Ume. Aber ganz so kurz dann doch wieder nicht. Es ist in Japan nämlich extrem unhöflich, jemanden einfach nur beim Namen zu nennen, ohne »san« dranzuhängen, was in etwa Herr bedeutet, auch wenn‘s nur der Spitzname unter Freunden ist.

Alles überragend: Harley-Davidson Evo

Ume-san fällt auf in Japan. Zum einen ist er mit 1,80 höher gewachsen als der Durchschnittsjapaner, und auch seine Harley überragt alles andere. Lenkkopf und Tank sind auf einer Höhe, wo sonst die höchsten Apehanger enden, also direkt vor Ume-san’s Nase. So wie sich der Lokomotivführer einer alten Dampflok links oder rechts heraus lehnen muss, um die Gleise zu sehen, peilt auch Ume-san bei Geradeausfahrt die Lage immer seitlich am Tank vorbei.

»Mit dem schmalen Lenker kann ich mich locker an den Autokolonnen vorbeischlängeln«

Geradeaus geht‘s in Japan praktisch nur auf der Autobahn. Die sind gebührenpflichtig, deshalb recht leer und kein Problem. Alle anderen Straßen sind so kurvig, dass Ume-san sowieso die Strecke im Blick hat. Und genau wie eben diese alte Dampflok fährt Ume-san auch seine Harley. Immer im höchstmöglichen Gang stampft der V2 bei den relativ niedrigen Geschwindigkeiten, die diese Straßen erlauben, locker die Steigungen hoch.

Im heftigen Stadtverkehr

Saft schwingt das ganze Fahrwerk im Rhythmus der Bodenwellen und nach Schlaglöchern, und nur selten greift Ume-san zum Handschalthebel unterm Sattel. Trotz diesem und der dazugehörigen Fusskupplung wird auch der heftigste Stadtverkehr in Angriff genommen. Der Lenker ist schmal und ragt lang nach hinten, eine echte Lenkstange, so wie das Ruder eines Segelboots. An die daraus resultierenden abgewinkelten Handgelenke hat er sich schon lange gewöhnt. Manchmal fährt er aber auch mit umgedrehter Griffhaltung von unten, mit dem Daumen nach hinten.

Schmiedeeisern: Die 25“ verlängerten Gabelstandrohre können einen Stabilisator gut gebrauchen

Als VIBES-Redakteur ist er viel unterwegs, etwa 20.000 Kilometer im Jahr, um von den vielen Treffen zu berichten, oder den schönsten Straßen und urigsten Typen unterwegs. Das erfordert natürlich auch Tribut vom Material. Vielleicht auf Grund des nachgerüsteten Kickstarters ist die Getriebehauptwelle letztes Jahr einfach mal so durchgebrochen. Genau wie das obere Rahmenrohr. Da war es sozusagen eine Sollbruchstelle, weil die obere Tankschraube direkt durch‘s Rahmenrohr neben der Lenkkopfmuffe ging.

Harley-Davidson Evo – markant wie ihr Besitzer

Selbst ist er auch ein Unikat. Markant der Kinnbart, lang die Haare, schwarz wie die ganze Erscheinung. Fingerlose Handschuhe sind an den Handflächen durchgescheuert. Ebenso ist die mit einem Zahn zusammengehaltene Lederweste eine Einzelanfertigung. Sie geht weit runter bis zu den Oberschenkeln und Ume-san trägt sie immer. Ein ganz anderes Bild als der allgegenwärtige amerikanische Hot-Rod-Look mit umgeschlagenen Vintage-Jeans über Turnschuhen und Pferdeleder-Fliegerjacke. Man sollte meinen, dass so einer auf so einem Bock in einer so konformen Gesellschaft wie Japan echte Probleme hat. Ist aber nicht so.

Über einen Trichter schnüffelt der SU-Vergaser unbesorgt im Freien

Zwar gucken die meisten schon perplex und halten etwas Abstand, aber zum einen sind moderne Japaner alles andere als konform und leben ihren Individualismus ganz normal aus, und deshalb auch sehr tolerant. Sehr höflich sowieso, und auch Ume-san bedankt sich unter Verbeugungen, wenn ihm der Tankwart auf einer Leiter stehend den Tank auffüllt. Auch wenn Ume-san seinen Schlafsack auf dem Rasen eines Michi-no-eki, wörtlich ‚Straße sein Bahnhof‘, ausrollt, wird er nicht davon gejagt, oder gar die Polizei gerufen. Denn das sogenannte »Nojuku«, Schlafen unter freiem Himmel, hat eine uralte Tradition und wird gerne im Sommer von jungen Leuten, Pilgern und Biker-san praktiziert.

Anders als die anderen

Genau wie Ume-san entspricht seine Harley nicht dem gängigen, japanischen Old-School. Sie ist nicht nur auf Grund des hohen Rahmens anders als die meisten Harleys in Japan. Denn es ist eine Evo, während sonst bevorzugt Shovel, Knuckle oder Panhead umgebaut werden. Aber Ume-san hatte sich die Harley seinerzeit neu gekauft. Die meisten Umbauten machte er selbst, denn bevor er zu VIBES kam, fertigte er in Handarbeit Ersatzteile für Flugzeuge. Den Hochneckrahmen aber kaufte er bei einem Chopperladen in Tokio.

Abgewetzt: Ume steht nicht so aufs Putzen. Dennoch legt er bei seiner Evo-Harley großen Wert auf Stil – und zwar seinen ganz eigenen

Dazu 25 Zoll längere Gabelrohre. Im Laufe der Jahre kamen individuelle Teile hinzu, während andere fortfielen. Im wahrsten Sinne. Als das Nummernschild abvibrierte, wurde es mit Draht wieder angenäht. Der große Messing-Ansaugtrichter am SU-Vergaser ist ein Mitbringsel von Minoru-san, dem VIBES-Chefredakteur, und hat so viel mehr Bedeutung, als wenn ein rares Teil durch Sniper-Software bei ebay ersteigert wird.

Pure Vibes

Talismane am Lenker, durch tausende Kilometer bei Wind und Wetter gealterte Ledertaschen und seine Kleidung ergeben einen charaktervollen Stil, wie er durch ein beim Vertragshändler gekauftes Bike, und die coolsten Szene-Klamotten aus dem Katalog nie erreicht wird. Das sind die VIBES, Emotionen und Gefühle, für die Ume-san und die Zeitschrift stehen.

Info | vibes-web.com

 

Technische Daten
Modell Harley-Davidson Highnecker

Motor
Typ Evolution V-Zweizylinder-Viertakt, ohv-Zweiventiler
Hubraum 1338 ccm
Bohrung x Hub 88,8 x 108 mm
Vergaser SU
Luftfilter Messingtrichter
Auspuff Eigenbau
Getriebe Fünfgang Handschaltung
Sekundärtrieb Riemen
Sonstiges Kickstarter nachgerüstet
Leistung 60 PS bei 5200/min
Drehmoment 103 Nm bei 3700/min
Fahrwerk
Rahmen Zubehör Highneck-Rahmen, Doppelschleifen-Stahlrohr, starres Rahmenheck
Gabel H-D Tele mit 25 Zoll verlängerten Standrohren
Räder 16 Zoll FLH-Felgen mit MT90-16
Bremsen vorn und hinten H-D Scheibe
Zubehör
Lenker Eigenbau
Tank H-D XL
Scheinwerfer Bates
Blinker Zubehör
Fußrasten FLH-Trittbretter
Sitz Solosattel/Sissybar
Sonstiges Ledertaschen
Metrie
Leergewicht 290 kg
Radstand 1720 mm

Beitrag veröffentlicht

in

von

Fotos: Frank Kletschkus
Fotos sind urheberrechtlich geschützt

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0
Would love your thoughts, please comment.x