Dave Bell war Pinstriper und Cartoonist der Extraklasse, Bahnbrecher der »Kustom Kulture« und Erfinder von Jock E. Shift
Dave Bell verstarb 2012 im Alter von 72 Jahren. Sein Name vermochte nicht jedem geläufig sein, dabei war sein Einfluss auf die Custom-Szene groß. Kurz vor seinem Tod war der »Old Book«-Teilekatalog von Drag Specialties auf den Markt gekommen, die Titelseite zeigte den Tank von Tom Rads Shovelhead Chopper. Der Tank beweist eindrucksvoll Daves Talent als Pinstriper und ehrt den Künstler David J. Bell noch kurz vor seinem Tod. Bell war ein Protagonist. Allerdings einer, der überwiegend im Verborgenen agierte. Einerseits trieb er in den sechziger und frühen siebziger Jahren mit Lack und Pinsel die Kunst am Fahrzeug vorwärts. Vor allem aber perfektionierte Dave seine Fertigkeit, Chopper, Hot-Rods, Pick-up Trucks und Musclecars mit ihren signifikanten Eigenschaften abzubilden, sprich: als Karikatur zu zeichnen. Letzteres tat er noch bis wenige Wochen vor seinem Tod.
Die Fähigeit des Dave Bell
Dave Bell war fähig, aus seiner Erinnerung Fahrzeuge in all ihren Details wiederzugeben, als Collage in Cartoons zusammenzufassen. Tatsächlich waren seine gemalten Sketche immer kleine abgeschlossene Bildergeschichten, fast wie in Comic-Heften. Bells Karikaturen versuchten keinesfalls die gezeichneten Objekte lächerlich darzustellen, trotzdem entlocken seine Geschichten vor allem dem englischverstehenden Betrachter immer wieder ein Schmunzeln. Chopper-Enthusiasten der ersten Stunden erinnern sich gerne an die Kultfigur »Jock E. Shift«. Sie erschien regelmäßig in einem der ältesten US-Chopper-Magazine überhaupt, dem Street Chopper. Die gezeichnete Episoden waren nicht selten mit doppelsinnigen Worten gespickt.
Selbst der Name des Titelhelden war so ein Wortspiel. Er kommt von »Jockey Shift«, was im Chopper-Fahrer-Slang die Bezeichnung des kurzen, direkt am Getriebe angebrachten Schalthebels ist. Dieser kleine Schaltstutzen wurde zum Gangwechsel hinter dem linken Bein gegriffen und bewegt, was dann wie die antreibende Bewegung mit einer Jockey-Reitpeitsche aussah. Um die Sache weiter zu spinnen, hatte »Jock« einen Bekannten, der auf den Namen »Abe Hanger« hörte und vorzugsweise mit extrem hohem Lenker am Bike fuhr. Ein anderer – ein echter Hardcore-Biker – hieß »Juan Percenter«. Ausgesprochen hört sich das wie Onepercenter an, was wiederum auf Deutsch »Einprozenter» bedeutet, denn nur 1% aller Biker sind die ganz Harten!
Das Idealbild eines Choppers
In einer seiner Geschichten erklärt »Jock» einem Szene-Neuling, wie Chopper eigentlich sein sollten: »Sie müssen ganz natürlich rüberkommen. Wie wunderschöne Tiere, stark wie «Jack der Bär«, ohne jeglichen Mickey Mouse-Firlefanz, mit ganz geilen, in Pfauenfarben glänzenden Pearl-Lackierungen. Dazu müssen sie den Look tropischer Fische aufgreifen und mit sanften, flüssigen Bewegungen rüberbringen, aber gleichzeitig die sehnige Beweglichkeit einer Antilope ausdrücken.« Jock E. Shift durfte da sicherlich Daves eigene Vorstellung vom Idealbild eines Choppers aussprechen – denn genau so sahen die Chopper aus, die er immer wieder in seine Cartoons einarbeitete.
Schnell hatte Dave seinen »Bell«-Stil entwickelt, bei dem die Figuren und Fahrzeuge ineinanderfließend die Story bilden. Von Ausgabe zu Ausgabe perfektionierte erl die Gesamtausführung seiner Zeichnungen. Der frühe »Jock E. Shift« war mit späteren Ausführungen kaum vergleichbar. Die originalen Bell-Zeichnungen kamen selten von der Druckerei zurück. Die Druckerkollegen rissen regelrecht darum. Bells Arbeiten erschienen als Cartoons und Anzeigen in Zeitschriften, auf T-Shirts, als Show-Trophäen. Legendär ist eine Chopper-Poster-Serie, die bei TRM-Publishing erschien.
Dave Bell gab sich als Außenseiter
1939 in der kleinen Stadt Austin im Süden Minnesotas geboren und aufgewachsen, studierte David J. Bell auf der Minneapolis School of Art die Fächer Industrie-Design und Bildhauerei. Sein Vater war Filialleiter einer Bank, die Mutter Hausfrau. In der Kunstschule gab sich der Autofreak als Außenseiter. Dave war inspiriert von Filmen wie »Running Wild« und »Hot Rod Girl«. Das Cruisen mit seinen Freunden, abendliche illegale Beschleunigungsrennen, dick aufgemotzte Chevys und Fords – Hot Rods und Special Bikes – das waren die fünfziger Jahre. Auch wenn seine Zeichnungen in den letzten Jahren vor seinem Tod vorwiegend die Hot Rod- und Muscle Car-Enthusiasten als Zielgruppe hatten, war er in früheren Zeiten sehr wohl im intensiven Kontakt mit Bikern. Dave fuhr schon 1963 eine gechoppte Triumph. Einige Zeit war er mit den Spokesmen unterwegs, deren Bikes alle verchromt waren und Speziallackierungen hatten.
Die gnadenlos lauten und gefährlich wirkenden, hochgezogenen Auspuffanlagen brachten ständig Probleme mit der Polizei. Bell designte Autos, begann mit dem Pinstripen von Vans und natürlich von Choppern. Seine Spezialität wurden Flammenlackierungen mit mehrfarbig verlaufenden Pinstripes als Outlines. In den späten sechziger Jahren hatte sich Dave vollends dieser Kunst verschrieben – nebenberuflich wohlgemerkt. Im Hauptberuf arbeitete er als Grafiker für die Pioniere der Computerherstellung, bei Sperry Univac. In dieser Zeit war sein Kontakt zu Tom Mc Mullen entstanden. Der hatte den Chopper-Versandhandel »AEE-Choppers« am Laufen und kam gerade mit einem Magazin namens »Street Chopper« auf den Zeitschriftenmarkt. Bereits in der Dezember-Ausgabe von 1970 war dann Dave Bells Cartoon über den imaginären Customizer »Jock E. Shift« in dem neuen Chopper-Magazin zu lesen!
Dave Bell fuhr einen Triumph Chopper
Wir konnten in einer frühen »Street Chopper«-Ausgabe auch einen Leserbrief finden, in dem ein gewisser Dave Bell aus St. Paul/MN seinen Triumph-Chopper vorstellte. Bell berichtete in seinem Schreiben über die nächsten anstehenden Umbauten an seinem Britbike-Chopper. Der Brief wirkt schwermütig, was verständlich ist, wenn man die knackig kalten Minnesota-Winter kennt: »… die letzten elf Tage vergingen durchgehend ohne Sonne, nur Wolken! Heute haben sie mir vorsorglich die Schuhbändel und den Gürtel abgenommen, um eventuellen Selbstmordversuchen vorzubeugen … richtet der Sonne ein Hallo von mir aus«, schrieb der Künstler an die Redaktion im sonnigen Kalifornien.
Zu den Arbeiten für Street Chopper kamen Aufträge für das etwas freizügige Magazin Chopper (Guide) hinzu. Hier waren die Titelhelden »Ophelia Goodbody« und »Fred«, ihr chopperfahrender Freund. Dave nannte die ihre sexuellen Bedürfnisse auslebende Ophelia auch gerne »Ophelia G«.
Pinstripen und Lackieren ergänzen das Zeichnen
Ab 1975 kam »Henry Hirise« dazu, eine Cartoon-Gestalt für die Zeitschrift Street Rodder, für Truckin’ gab’s den Typen »Van Hauler« und für Custom Rodder kreierte Dave die Figur »Nate Moddle«. Schon 1974 hatte Dave seinen Job bei Sperry Univac aufgegeben, um nun hauptsächlich für die Magazine zeichnen zu können. Trotzdem arbeitete er auch weiterhin als Pinstriper und Pinselzeichner, zum Beispiel zusammen mit lokalen Lackiergrößen wie Mike Gerner oder Dale La Roche. Aber er werkelte auch mit Kevin Winter von den »Sunshine Studios« und – nicht zu vergessen – mit Jon Kosmoski, dem Gründer von «House of Kolors«.
Weil sich die Custombike-Szene zu stark änderte und die Zeitschriften Street Chopper und Chopper Guide die achtziger Jahre nicht überlebten, sind »Jock E. Shift« und »Ophelia Goodbody« längst kultige Geschichte. Dave machte fast nur noch Auftragszeichnungen und lieferte fristgerecht die Auto-Helden-Cartoons, die bis vor kurzem noch immer über die Magazinseiten düsten.
Anekdoten und Späßchen
Wir hatten das Glück, Dave schon im Sommer 2008 in North St. Paul in Minnesota zu treffen. Er brachte einige seiner aktuellen Arbeiten mit, um uns einen Einblick in sein Schaffen zu geben, als ob wir nicht wüssten, mit wem wir es zu tun hatten. Schüchtern wirkend, sich aber schnell öffnend, hatte Bell zu jedem gezeichneten Fahrzeug und dessen Besitzer eine Anekdote und ein Späßchen parat. Viele Größen der »Kustom«-Szene zählten zu seinen Freunden (Ja, Custom mit »K« vorne, anstatt der offiziellen englischen Schreibweise, weil der Einfluss der Deutschen in der Szene nicht unerheblich gewesen sei …) wie beispielsweise Ed »Big Daddy« Roth.
Der war nämlich auch deutschstämmig, sagte Dave beiläufig und streute ein, dass Eduard, der Mitte der sechziger Jahre weltweit das allererste Chopper-Magazin herausbrachte und die amerikanische Jugend mit seinen gnadenlosen Motorrad-, Trike- und Autokreationen, aber auch mit Zeichnungen oder der Anti-Mickey Mouse-Figur »Rat Fink« begeisterte. Dave baute seine Freunde und deren Kreationen immer wieder in seine eigenen Werke mit ein. Auch Kenneth Howard, der sich »Von Dutch« nannte, soll – seiner Ansicht nach – deutsches Blut in sich gehabt haben. Uns Deutschen gegenübersitzend erwähnte er unerwartet, dass auch in ihm deutsches Blut fließe. Seine Mutter sei eine geborene »Metzger« gewesen.
Dave Bell, ein Teil der frühen Custom-Industrie
Darauf angesprochen, ob die Figur des »Jock E. Shift« ein reales Vorbild hatte, verneinte Dave dies, obwohl wir darauf gewettet hätten, dass Bob Clark, damals Technikredakteur von Street Chopper, ursprünglich als Vorlage herhalten musste. »Herman« allerdings, »Jock E. Shifts« Hund, existierte wirklich. Das Original war Daves eigener Deutscher Schäferhund »Herman von Minneapolis«.
Dave war weit über vierzig Jahre mit seiner Frau Lynn verheiratet. Ihn etwas scheu zu nennen war vielleicht überzogen. Tatsächlich brauchte es aber schon etwas Überredungskunst seitens unseres Kontaktmanns, dem Top-Lackierer und Chopper-Enthusiast Tom Rad, um uns David aus der Tabu-Zone, seinem Keller- Atelier, zu locken. Tom hatte ein besonders gutes Verhältnis zu Dave. Ihm gelang es nämlich auch, Dave als Pinstriper für sein eigenes 70er Jahre Chopper-Projekt zu gewinnen. Obwohl dieser den Schlepper-Pinsel eigentlich so gut wie nicht mehr anrührte. »Aber«, so belehrt uns Tom, »wenn er erst mal anfing, dann war er kaum noch zu bremsen.«
Life is a Cartoon
Sein Motto war »Life is a Cartoon« Dave Bell war ein Mann, der eine lebenslange innige Liebe zum Zeichnen, zu Autos und zu Motorrädern hegte und zu Lynn, die ihm Frau und Kumpel gleichzeitig war. Er gehörte unzweifelhaft zu den wichtigsten Gestalten der USA, als es darum ging Pinstriping zu perfektionieren! »Multicolored Stripes« waren seine Spezialität. Aber in die Kustom Hall of Fame geht er vor allem als Cartoonist der Extraklasse ein. Mit seinen Zeichnungen hat er viele von uns inspiriert und motiviert. Und in seinen gezeichneten Geschichten verarbeitete er das Leben der Kustom Kulture um ihn herum.
Über fünfzig Jahre lang stand Dave im Dienste der Automotiven Kunst. Er hinterließ seine Frau Lynn, fünf Stiefkinder, dreizehn Enkel, sechs Urenkel und zahllose Freunde und Fans. Für den Honda-Chopper in seiner Garage in Falcon Heights/Minnesota blieb dem vielseitigen Künstler dagegen nur wenig Zeit.
Horst Heiler
Jahrgang 1957, ist nach eigenen Angaben ein vom Easy-Rider-Film angestoßener Choppaholic. Er bezeichnet sich als nichtkommerziellen Customizer und Restaurator, ist Mitbegründer eines Odtimer-Clubs sowie Freund und Fahrer großer NSU-Einzylindermotorräder, gerne auch gechoppter. Als Veranstalter zeichnete er verantwortlich für das »Special Bike Meetings« (1980er Jahre) und die Ausstellung »Custom and Classic Motoräder« in St. Leon-Rot (1990er Jahre). Darüber hinaus war er Aushängeschild des Treffens »Custom and Classic Fest«, zunächst in Kirrlach, seit 2004 in Huttenheim. Horst Heiler ist freier Mitarbeiter des Huber Verlags und war schon für die Redaktion der CUSTOMBIKE tätig, als das Magazin noch »BIKERS live!« hieß. Seine bevorzugten Fachgebiete sind Technik und die Custom-Historie. Zudem ist er Buchautor von »Custom-Harley selbst gebaut«, das bei Motorbuch Stuttgart erschienen ist, und vom Szene-Standardwerk »Save The Choppers!«, aufgelegt vom Huber Verlag Mannheim.