555 – ist das die neue Number of the Beast? Man könnte es beim Blick auf diesen weltweit einzigartigen Zweitakt-Eigenbau eines Cafe Racer denken

Nehmen wir an, das Wettrüsten der 70er Jahre hätte nicht nur im Weltraum und bei Militärfahrzeugen, Panzern und Flugzeugen stattgefunden, sondern auch auf den Motorradrennstrecken der Welt? Wie hätte eine Welt ausgesehen, in der Zweitakt-Raketen wie die Kawasaki H2, Suzukis GT und Yamahas RD-Modelle plötzlich Konkurrenz aus dem Osten bekommen hätten? Tatsächlich ist die Geschichte der Motorradmarken hinter dem eisernen Vorhang noch immer weitgehend unerzählt.

Stabile Gitterrohrschwinge Marke Eigenbau

Geheime Sowjet-Prototypen

Tatsächlich gab es nämlich auch dort interessante Motorradprojekte, geheime Prototypen und Einzelstücke. Dazu gab es Millionen von Motorrädern, die für den Alltagsbedarf produziert und in alle Welt exportiert wurden. Und in der damaligen UdSSR existierte jenseit der jahrelangen Dominanz im Eis-Speedway eine große Vielfalt an Motorsport. Nach dem Zerfall der Sowjetunion in viele Einzelstaaten wurden Informationen und Dokumentationen zugänglicher, auch über die Motorradhistorie. Einer der herausragendsten Motorrad- und Automobil-Rennfahrer und -Entwickler, im Westen nahezu unbekannt, war Wilhelm Wilhelmovich Beckman. Das Motorrad, das wir euch hier zeigen, ist ihm gewidmet. Und tatsächlich ist es ein absolutes Unikat.

Die runden Lufteinlässe wiederholen sich in den Karosserieteilen

Legendäre Zweitakt-Raketen standen Pate

In Charkov in der Ukraine ist »Iron Custom Motors« beheimatet, hier entstand die »Beckman«. Tatsächlich könnten die Informationen zu diesem Motorrad ein Buch füllen. Dieses Motorrad ist schlicht eine Meisterleistung und beinhaltet einige Teile russischer Motorradrenngeschichte. Auf den ersten Blick halten viele das Bike sicher für eine Kawasaki Mach III oder Suzuki GT 500, doch solch legendäre Zweitakt-Raketen standen beim Bau lediglich Pate. Tatsächlich ist das hier ein kompletter Eigenbau, inklusive einem Motors aus vorwiegend russischen Komponenten.

Der 555-Kubik-Dreizylinder ist eine Eigenentwicklung, stammt ab vom 1982er IZH-Jupiter-4-Zweitakter

Eigenbau-Motor im Zweitakt-Eigenbau

Der 555-Kubik-Dreizylinder ist eine Eigenentwicklung und stammt vom 1982er IZH-Jupiter-4-Zweitakter ab. Dieses Brot-und-Butter-Motorrad wurde seinerzeit in Izhevsk hergestellt. Die Stadt ist noch immer ein Industriezentrum der russischen Fahrzeug- und Waffenindustrie ist. Mehrere der Original-350-Kubik-Twins mit etwa 27 PS schnitt das Team von Iron Custom Motors entzwei und kreierte daraus eine eigene Version. Der Dreizylinder ist in drei Sektionen aufgeteilt, ebenso die Kurbelwelle. Das ist 80er-Jahre-Technologie aus der UdSSR, ausgenommen die drei Mikuni-Vergaser und die handgefertigten Resonanz-Auspüffe. Motor und Kraftübertragung sind so professionell gemacht, dass sie leicht für ein Massenprodukt oder Testobjekt einer technisch perfekt ausgestatteten Rennabteilung gehalten werden könnten. Der Triple liefert 56 PS bei 7500 Umdrehungen, was immerhin 1500 Umdrehungen mehr als beim Serien-Jupiter sind. Erst bei über 200 Stundenkilometern bleibt die Tachonadel stehen.

Mega: Die selbstgebaute Auspuffanlage endet seitlich unterm Höcker

Elektronische Gimmicks – Fehlanzeige

Für den handgemachten Dreier gab es natürlich keinen passenden Rahmen. Er musste daher von den Iron-Custom-Jungs selbst gebaut werden. Als Spender diente Der Doppelschleifen-Rahmen einer Jawa 350. Er wurde an den kompakten, neuen Motor angepasst. Unüblich dabei ist die Anordnung der Auspuffanlage: Bei Grand-Prix-Rennmaschinen liegen die Resonanzkörper unter dem Motor, bei der Beckman dagegen zwischen Tank und Zylinder. Ermöglicht wird dies durch die völlige Abwesenheit elektronischer Gimmicks wie Benzineinspritzung und Ähnlichem.

Als Anker fungieren luftgekühlte Renntrommeln einer russischen IZH

Handgefertigte Perfektion

Die stabile Gitterrohrschwinge stammt ebenfalls von Iron Custom Motors, der einzelne Stoßdämpfer unter dem Rahmen wird auf Zug belastet. Vorn federt eine geradezu antik wirkende Dnjepr-K750-Schwingengabel, die ihre Abstammung von den BMWs der 30er Jahre nicht verleugnen kann. Die Gabel passt zur Optik, insbesondere wenn man die luftgekühlten Trommelbremsen des IZ-SH-12-Racers betrachtet. Sie sind im heutigen Russland ein echtes Sammlerstück. Die runden Lufteinlässe wiederholen sich in den Karosserieteilen. Tank, Cafe-Racer-Verkleidung, Heckteil und Spoiler sind mit den gleichen »Einlässen« ausgestattet, inklusive des Messinggitters hinter dem Alurahmen. Diese handgefertigte Perfektion ist jeder Bikeshow würdig.

Wilhelm Wilhelmovich Beckmann

Geboren 1910 war Beckmann Designer, Ingenieur, Athlet, Sportrichter, Lehrer und Autor zahlreicher Motorsport-Bücher, die in der russischen Motorrad-/Automobilsport-Geschichte einen festen Platz haben. Nach dem Abschluss am Leningrad Polytechnic Institute 1931, kam Beckman zur »Roter Oktober«-Motorradfabrik. Unter seiner Führung wurde das erste russische Sportbike L-500 entwickelt. Daneben wurde er zu einem der berühmtesten Motorradrennfahrer seines Landes: 1933 gewann er das prestigeträchtige »Championship von Leningrad«, weitere Siege und zwei Rekorde in Straßenrennen kamen dazu. 1941 wurde Wilhelm Wilhelmovich ur Irbit-Motorradfabrik versetzt, um die Kriegsproduktion zu forcieren. Nach der deutschen Niederlage kehrte er nach Russland zurück, mit seiner Beteiligung wurde die M-75-Rennmaschine entwickelt. Wilhelm Wilhelmovich Beckman starb 1980.
 

Info | ironmoto.com.ua

 

 

 

Horst Rösler
Freier Mitarbeiter bei

Diplom-Ingenieur Horst Rösler ist Jahrgang 1960 und unter seinem Nicknamen »Motographer« seit Jahren einer der wahrscheinlich meistveröffentlichten Bildjournalisten in Sachen Custombikes auf Harley-Davidson- und V-Twin-Basis. Als Plastikmodellbauer seit jungen Jahren, schrieb er von 1979 bis 2009 zunächst als freier Mitarbeiter, später dann als Redakteur für Motorräder für die Fachzeitschrift »Modell Fan« und von 1980 bis 1985 für das Motorradmagazin »Visier«. Seit 1992/93 ist er freiberuflich für deutsche und internationale Custombike-, Harley-Davidson- und Motorradmagazine tätig. Horst ist ein Szene-Urgestein und es gibt wohl kaum ein Event auf diesem Planeten, wo er nicht anzutreffen ist. Sei es als Organisator für Bikeshows oder als Fotograf unter anderem für die AMD World Championship von 2004 bis 2010. Als der »Motographer« ist er weltweit auf verschiedenen Harley-Events unterwegs und spezialisiert auf Randthemen oder zunächst kaum beachtete Newcomer der Customszene. Das bestmögliche Bildmaterial bereitzustellen gehört ebenso zu seiner Passion wie die intensive Suche nach Originalquellen, Zeitzeugen und die Zuordnung von Motorrädern in ihren geschichtlichen Hintergrund, wobei er nicht nur auf Custombikes beschränkt ist.