Nur noch selten sieht man Highnecker, fast scheinen sie einer vergessenen Kategorie anzugehören. Umso erfrischender, wenn sich eine Custom-Schmiede wie Classic Cycles entscheidet, einen zu bauen. Und mehr noch, dass der Thunderstroke-V2 aus einer Indian Chief als Antrieb zum Einsatz kommt.

Bei Classic Cycles im schweizerischen Oberwil versteht man eine Menge von Custombikes. Regelmäßig baut das Team um Mastermind Béla Börden komplett individualisierte Motorräder mit amerikanischen V2-Motoren für Kunden oder auch einfach für sich selbst. Für einen Indian-Vertragshändler aus dem Tessin kamen für den geplanten Aufbau eines Custombikes dementsprechend nur die Spezialisten aus dem Basler Land in Frage. Dem zukünftigen Besitzer schwebt ein Highnecker vor, ganz klassisch mit Hardtail, aufsteigendem Tank und langer Gabel.

Die Richtung war klar: West-Coast-Chopper-Style

Kurz gesagt, es sollte in Richtung des West-Coast-Choppers-Style gehen. Der Fokus soll auf Fahrbarkeit und Komfort liegen, schließlich will der über 1,80 Meter große Fahrer das Gerät auch in seinem natürlichen Umfeld bewegen und nicht nur im Showroom anstarren. Als Antrieb kommt nur ein Indian-V2 in Frage, denn als Vertragshändler schmückt man sich nicht mit Federn aus Milwaukee, sondern greift lieber ins eigene Regal. Um die Kosten nicht explodieren zu lassen, wird zu Beginn ein Budget festgelegt.

Vieles Parts sind Sonderanfertigungen, so wie der Tank, der für die Aufnahme der Instrumente modifiziert wurde

»Aber ein erweiterungsfähiges«, wie Béla augenzwinkernd einräumt. Doch alleine die Motorenwahl frisst ein großes Loch ins Budget, denn Indian Motorcycles liefert keine separaten Motoren wie es beispielsweise der Mitbewerber macht. Nein, der Weg an den potenten V2 geht nur über ein Komplettfahrzeug, das kannibalisiert und zum Ersatzteillager umfunktioniert wird. Positiver Nebeneffekt: Aufgrund der Bestandsschutzregelung konnte Classic Cycles noch auf eine Chief mit 116er Thunderstroke-V2 mit Euro-3 zurückgreifen.

Eine Indian Chief dient als Motorspender und Teilelager

Zuerst kümmert sich Béla Börden um einen passenden Starrrahmen. Der Zubehörmarkt gibt für Indian-Motoren noch nichts Passendes her, also entschließt sich der Schweizer mitsamt Motor nach Österreich zu fahren. Bei Spezialist Penz entwirft man gemeinsam einen passenden Rahmen, der um den Motor herum konstruiert wird. »Das war nicht ganz einfach. Die Geometrie musste passen, denn das Bike sollte ja auch fahrbar sein. Also haben wir die Eckdaten berechnet.«

»Unser Kunde wollte unbedingt einen Highnecker im West-Coast-Choppers-Style, nur eben mit einem Indian-Motor«

Individuallösungen sind zwar eine feine Sache, doch sie kosten erheblich mehr Geld als Massenware von der Stange. Um das Fahrwerk zu komplettieren, entscheidet sich Béla für eine Springergabel von Rebuffini. Die italienische Maßanfertigung mit den beiden Öhlinsdämpfern ist reinster Gabelporno und mit das Feinste, was in diesem Bereich angeboten wird. Viel Zeit erfordern auch die Blecharbeiten. Tank, Heckfender, Seitendeckel und Lenker fertigt man bei Classic Cycles selbst an. Die Auspuffanlage wiederum überlässt man den Spezialisten von BSL, die mit ihrer »Outline« ein kleines Schweißer-Kunstwerk hinzaubern, das sich bestens ins Gesamtbild der »Hard Indian« einfügt.

Aus der Indian Chief wird ein Hardtail-Highnecker mit Springergabel

Die Räder bestellt man bei Rick’s, die Hinterradverkleidung in Frankreich bei EMD. Und wo ordentlich Dampf drinsteckt, muss auch richtig verzögert werden. Béla steht nicht auf schlechte Bremsen und verbaut in die Springergabel gleich zwei Vierkolben-Sättel von Indian, ebenso wie am Hinterrad. Eine ordentliche Bremsleistung ist Pflicht, denn der Highnecker muss ohne ABS auskommen. »Die Neuverkabelung hat uns ganz schön Kopfzerbrechen bereitet. Natürlich ist es ein CAN-Bus-Kabelbaum, deshalb haben wir auch die Originalinstrumente beibehalten.

Auch die BSL-Auspuffanlage ist eine Maßanfertigung. Alleine die Schweißnähte sind echter »Weld-Porn«, wie es so schön heißt. Die Lackierung und die Beschichtung sind farblich aufeinander abgestimmt

Aber wir haben die Elektrik ziemlich entschlackt und viele überflüssige Teile entfernt. Das hat mich ein paar Nachtschichten gekostet, denn erst wenn das Geschäft zu ist und keiner mehr in der Werkstatt schraubt oder flext, finde ich die Ruhe, die ich für eine Neuverkabelung brauche.« Ruhe brauchen auch die unzähligen Details am Motorrad, die das Auge erst bei näherem Hinsehen wahrnimmt. Alles ist sehr clean gehalten, Kabel, Stecker, Leitungen – alles weitgehend unsichtbar verbaut. Selbst an der Springergabel stören keine unschön herabhängenenden Bremsleitungen. Hier setzen Béla und seine Crew auf selbstgebogene Stahlleitungen, wie sie sonst im Automobilbau zu finden sind. 

Jede Menge Schleif- und Spachtelarbeit

Viel Zeit und Geld nehmen auch die Pulverbeschichtungen sowie die Vorbereitungen zum Lackieren sowie das Lackieren selbst in Anspruch. »Die Schleifarbeiten waren sehr umfangreich«, betont Béla. »Das meiste siehst du eben nicht, aber alleine das Spachteln und Herausschleifen der Kanten an den Seitendeckeln hat viele Stunden verschlungen.« Ein Aufwand, der sich in der Summe lohnt. Es gibt keine störenden Elemente an dem Highnecker, alles wirkt wie aus einem Guss. Was aber auch letztlich den Preis erklärt, der ganz knapp am sechsstelligen Bereich vorbeischrammt.

Es sind immer die Details, die ein Projekt so zeitaufwendig machen. Alleine die Schleifarbeiten an den Blechteilen haben unzählige Stunden gefressen. Doch der Aufwand hat sich gelohnt, denn solche Teile gibt es nun mal nicht von der Stange. Ebenso wenig wie die spezielle Beschichtung der Gehäuseteile

Es sind nicht nur die zahlreichen individuellen Lösungen und Sonderanfertigungen oder die teuren Parts wie Rahmen, Motor, Gabel oder Lackierung, es sind auch die hunderte von Arbeitsstunden, die nun mal in ein Custom-Projekt fließen. Es ist Handarbeit, reines Handwerk und keine Massenproduktion vom Band. Doch dafür ist es auch ein kleines Kunstwerk, das man immer gerne betrachtet.

Info |  classic-cycles.ch

 

Christian Heim