Harley Softail-Modelle gehören zu den weltweit am meisten umgebauten Motorrädern. Die Starrrahmenoptik bietet gerade für klassische Stilrichtungen beste Voraussetzungen, vor allem wenn sie anschließend mit der Eleganz eines Cadillacs aufwarten. So wie die Harley-Davidson Night Train von One Way Machine.

Mit der Softail-Baureihe hat die Company bekanntermaßen einen Jahrhundertwurf hingelegt. Kein Wunder, denn durch die besondere Rahmenform mit der Dreiecksschwinge und der versteckten Federung imitiert sie täuschend echt einen Starrrahmen. Nichts verbaut den Blick auf Rahmen oder Hinterrad und Laien fallen fast immer darauf rein.

Harley-Davidson Night Train 100th Anniversary

Julian von Oheimb hat sich als Basis für sein elegantes Kunstwerk ein Jubiläumsmodell ausgesucht, eine 2003er Softail Night Train. Zum 100-jährigen hatten die Macher aus Milwaukee ihre Motorräder mit ein paar optischen Goodies versehen, die auf die lange Tradition von Harley-Davidson verweisen. »Sakrileg!«, werden jetzt eingefleischte Enthusiasten schreien, »wie kann man nur ein Sondermodell zerschneiden und umbauen?«

Julian hat viele Parts des amerikanischen Designers Roland Sands verwendet. Das gefräßte Aluminium mit den rohen Oberflächen bildet einen perfekten Kontrast zu dem sonst ganz in Schwarz gehaltenen Bike. Schön, dass es auch kleine Luftfilter gibt und nicht immer riesige »Brotdosen«

Man kann, schließlich war 2003 ein ziemlich fettes Jahr für Harley-Davidson und die Krise der amerikanischen Motorradindustrie noch ein halbes Jahrzehnt entfernt. Damals produzierte die Traditionsmarke knapp 300 000 Motorräder im Jahr. Also kein Grund, deswegen eine Träne zu verdrücken, zumal Julian mit seiner Manufaktur »One Way Machine« Motorräder vorzugsweise aus den USA nach Deutschland holt. Die Verfügbarkeit ist größer, die Preise niedriger. Für sein Vorhaben also die perfekte Basis.

Ein Bobber mit 21-Zoll-Vorderrad?

Für die »100 Years« getaufte Kreation schwebte dem Diplom-Ingenieur ein Bobber im Stil der 1960er Jahre vor, allerdings mit eigenen Stilelementen und einem bobberuntypischen 21-Zoll-Vorderrad. Mag auch die Bezeichnung »Bobber« Puristen widerstreben, die Symbiose kann durchweg als gelungen bezeichnet werden.

Die Kupplung wurde auf hydraulische Betätigung umgebaut. Die Getriebeabdeckung stammt aus dem Hause RSD

Das Bike glänzt mit einer stimmigen Linienführung und präsentiert sich zudem als äußerst schlank. Fahrbarkeit war außerdem einer der Punkte, die bei Julian ganz oben auf der Prioritätenliste stand. Showbikes sind ihm fremd, er möchte seine Kreationen lieber auf der Straße sehen. Legal, mit Zulassung und allen Rechtsnormen der StVZO entsprechend. Hatte er früher sogar noch eigene Rahmen konstruiert, so ist es ihm heute der Aufwand nicht mehr wert. Er setzt ausschließlich auf originale Harley-Davidson-Rahmen, die bei Bedarf modifiziert werden.

Harley-Davidson Night Train – Konsequentes Understatement

Im Gegenzug kommen dafür nur hochwertige und vor allem geprüfte Komponenten ans Bike. Die Auswahl erfolgt gezielt und ganz im Sinne von Julians Motto, mit wenigen Teilen möglichst viel zu erreichen. Und so hält er sich auch bei den Details weitestgehend zurück, überfrachtet das Bike nicht und setzt konsequent auf Understatement. Ein Aufwand, der sich lohnt. Die schwarze Schönheit verströmt die Eleganz eines Cadillacs, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Und je mehr man sich auf das Bike einlässt, desto mehr fallen einem dann doch zahlreiche Details auf.

Die Schräglagenfreiheit ist bauartbedingt eingeschränkt. Doch wer will so viel Edelmetall schon über den Asphalt kratzen lassen?

Vom minimalistischen Motogadget-Instrument, über Schalter, Taster, Armaturen bis hin zur feinen Bremse des französischen Spezialisten Beringer oder der hydraulischen Kupplung. Von den gefrästen Aluminium-Parts des Amerikaners Roland Sands ganz zu schweigen. Trotzdem ist die Kreation von One Way Machine weit entfernt von einem reinen Bolt-on-Bike. Das liegt nicht nur an den abgetrennten Struts, die Julian komplett neu gestaltet hat, dem Heckfender oder vielen weiteren Parts, die er selbst entworfen und hergestellt hat.

Harley-Davidson Night Train – Start the Engine

Vielmehr ist es die stimmige Konzeption, das Zusammenspiel aller Komponenten, die die »100 Years« so eindrucksvoll auf den Betrachter wirken lassen. Doch das ist alles nur graue Theorie, Papier mit Daten und Fakten eben. Wie sieht es in der Praxis aus? Ich schwinge mich auf die schwarze Schönheit und bin überrascht, wie gut es sich auf dem schmalen Sattel sitzen lässt. Ja, er ist hart, aber ich mag das mehr, als die sofaähnlichen Gestühle, in denen man erst komfortabel einsinkt, um anschließend festzustellen, dass dir das Ding nach einer halben Stunde die Blutzufuhr der Beine abdrückt.

Die Tröten von BSL bieten einen sauberen Klang und fallen sehr schmal aus. Das passt optimal zur Optik des Bikes

Der Lenker liegt optimal in den Händen, die cleane Optik mit den wenigen Tastern gefällt mir. Dabei muss Julian wohl meinen verzweifelt suchenden Blick bemerkt haben. Ich finde den verdammten Startknopf nicht. »Ist wie beim Auto«, bemerkt er trocken. Wie beim Auto? Aha, es muss irgendwo ein Zündschloss geben, wahrscheinlich auf der linken Seite. Tatsächlich, da ist der Schlüssel. Einmal drehen und der TwinCam erwacht zum Leben.

Die Ritzelbremse verzögert nur rudimentär

Kurz bevor ich davon ziehe und dem One-Way-Machine-Spross die Sporen gebe, gibt mir Julian noch einen dezenten Hinweis: »Pass mit der Ritzelbremse auf, sie bremst zwar, aber nicht so, wie man es von einer normalen Bremse gewohnt ist.« Danke für den Hinweis. Ich vertrau lieber dem Franzosen, der sich vorn in die Scheibe verbeißt. Mit Beringer habe ich noch nie schlechte Erfahrungen gemacht, obwohl die italienischen Stopper von Brembo, die Harley schon seit Jahren verbaut, nicht weniger gut zupacken.

Wenn Fahrbarkeit im Vordergrund steht, darf es an den Bremsen nicht scheitern. Die feine Scheibenbremse mit 4-Kolben-Festsattel des französischen Spezialisten Beringer packt ordentlich zu

Ab auf die Landstraße. Die Griffe sind ein Segen, liegen perfekt in der Hand und bieten den richtigen Grip. Keine von den glattgelutschten Fräßteilen, die zwar dem Auge schmeicheln, aber sonst keinen praktischen Nutzen haben. Auch mit seiner Bemerkung zur Fußbremse hat Julian recht gehabt. Der Hebel fällt nach unten weg. Wirkung gleich null. Dafür spielt vorn aber umso mehr die Musik. Die Einscheibenbremse packt vehement zu, schafft sofort Vertrauen und lässt keinen Zweifel, dass sie die um gut fünfzig Kilogramm abgespeckte Maschine sicher im Griff hat. 

Die Sportster-Gabel arbeitet einwandfrei

Der TwinCam stampft im vertrauten Rhythmus, hängt sauber am Gas, auch wenn Julian noch was von feinerer Abstimmung gemurmelt hat. Aber das habe ich unterm Helm ganz schlecht verstanden. Wahrscheinlich waren die BSL-Tüten schuld, die sonor und unaufdringlich, aber dennoch mit stimmigem Sound prötteln. Fahrwerksseitig gibt es überhaupt nichts zu meckern. Die Sportster-Gabel arbeitet einwandfrei, bügelt Stöße sauber aus und lässt sich von Spurrillen nicht irritieren. Die unten liegenden Federbeine sind zwar nicht das Nonplusultra in Sachen Fahrwerkstechnik, erfüllen aber ihren Zweck.

Gut 50 Kilo hat die Night Train abgespeckt

Wer die »100 Years« hart rannehmen und scharf reiten will, wird zwar auf der Performance-Seite schnell an die Grenzen stoßen, aber bis dahin macht das Bike einfach tierisch Laune. Weil es eben einen Zentner leichter ist, schlanker und wesentlich agiler als eine Serien-Night-Train. Selbst die Reifen mit ihrem klassischen Profil machen ihren Job. Zwar sind sie nicht für ausgeprägte Schräglagen gut, aber wer will das mit so einem Motorrad schon. Ich drehe um, beende die Ausfahrt. Julian wartet schon. »Und wie wars?« »Was soll ich sagen, gib mir Schlüssel und Papiere und wir werden Freunde!«

Info |  onewaymachine.com

 

Christian Heim