Nur ein kurzes Leben war der Victory Octane gegönnt. Im Frühjahr 2016 der Presse präsentiert, läutete der Polaris-Konzern ihr schon im Januar 2017 das Totenglöckchen – und der kompletten Marke gleich mit. Mit einem verschlankten Racer bewahrt H&B Motorcycle aus Thannhausen dem Powercruiser der Amis ein ehrenhaftes Andenken.

Ganz kann man sich des Wehmuts nicht erwehren. Es ist ein Jammer, wenn man sieht, wie wenig es gebraucht hätte, um auch den sportlicheren Fans ausladender V-Twins einen Burner auf den Hof zu schieben. Den Beweis dafür haben Ludwig Hafner und Peter Bader von H&B Motorcycle mit ihrer Black and White angetreten.

Wie Chirurgen fielen sie über die Octane her

Nicht mit dem Schlachtermesser fielen sie über die Octane her, sondern eher wie Chirurgen, die das Skalpell mit sensibler Hand dort ansetzen, wo es nottut. Wobei dieses Bild im Falle von Ludwig etwas schief hängt. Der Bursche, gelernter Spengler, hat Hände, die ein 1,5 Millimeter dickes Karosserieblech schneller zu einem Motorradheck dengeln, als unsereiner sein Taschentuch faltet.

Auch wenn die Black and White mit den aus Stahlblech gedengelten Teilen nicht leichter geworden ist, wirkt sie doch um einiges sehniger als das Original

Viele Formen entstehen bei ihm im Prozess. Und so war es diesmal auch mit den Blechtafeln, die schließlich zur Heck-Sitzbank-Kombination reiften. Die bildet das Gegengewicht zum Originaltank und nimmt auch dessen Mittellinie auf, in der sich mit der chequered flag die beiden Seiten der Black-and-White-Lackierung stimmig vereinen.

Blechbearbeitung mit dem Hammer am Arm

Auch Startnummerntafel, Lampenmaske und Frontfender formte Ludwig, der bis auf eine Kantbank keinerlei Blechbearbeitungsmaschinen sein Eigen nennt, mit dem Hammer am Arm. Bei letztgenannten Teilen fiel es ihm noch leichter als normal, denn als Basis dienten die abgelegten und mitleidslos zerteilten Kotflügel anderer Modelle.

Die Originaldämpfer am Heck ersetzte H&B durch RFY-Exemplare mit ­Ausgleichsbehältern. Die sind längenvariabel und in Minimalstellung kürzer als die Originale. Die Felgen sind in glänzendem Schwarz lackiert und mit weißen Zierstreifen versehen

Die Seriengabel steckte Ludwig so weit durch wie möglich. Zusammen mit den längenvariablen, in Minimalstellung kürzeren Federbeinen von RFY sorgt das dafür, dass die Octane der Welt nun aufrecht entgegentritt. Doch Moment mal: Einer Cruiser-Geometrie mit 1578 Millimetern Radstand auf diese Weise noch mehr Nachlauf und einen noch flacheren Lenkkopfwinkel zu verpassen, kann das Sinn ergeben?

Victory Octane – Von Haus aus kein Handlingswunder

Die ersten Meter besiegen meine Skepsis. Klar ist die Octane kein Handlingwunder, das wie ein erregtes Huhn durch die Rushhour flattert. Bald fünf Zentner Metall mit einem 130er-18-Zoll-Rad vorn sind keine Schubkarre. Doch klar gesetzten Lenkimpulsen folgt sie willig und flüssig. Erst schert das Vorderrad ein, irgendwann kommt das Heck verlässlich nach. Anteil daran haben die Avon-Cobra-Gummis, die sich mit dem Chassis zu einer flüssigen Kombination vereinen und die Serien-Kendas klar in den Schatten stellen – vom Nassgrip ganz zu schweigen.

Schon im Serienzustand das Sahnestück der Octane: der 1179-ccm-Twin. Ludwig sah keinerlei Anlass, an ihm herumrumzudoktern. Durch Um- schweißen der Krümmerenden brachte Ludwig die neuen Dämpfer auf Linie

Größtes Verdienst von H&B aber ist die Sitzposition. Als Modern American Muscle hatte Victory die Octane damals präsentiert. Doch wir wissen: Muckibude ist nicht alles, auch Koordination und Beweglichkeit dürfen nicht fehlen. Und genau da greifen die Umbaumaßnahmen: Nicht länger wie auf einem Gynäkologenstuhl sitzt man jetzt, sondern wie auf einem richtigen Motorrad.

Diese Octane könnte in Sachen Schräglagendynamik eigentlich mehr

Die neue Rastenposition schuf Ludwig mit einem am Hauptrahmen verschraubten Hilfsrahmen als Andockpunkt. Dass die Rastenbasis dadurch noch breiter wurde, bringt nicht nur beim Rangieren aus dem Sattel heraus den ein oder anderen blauen Fleck am Knöchel, sondern kostet auch Schräglagenfreiheit. Diese Octane könnte in Sachen Schräglagendynamik eigentlich mehr. Und dass sie mit dieser Geometrie unbeirrbar geradeaus rennt – geschenkt.

Die linke ist die dunkle Seite der Octane. Die schwarze und die weiße Seite der Lackierung trennt ein Chequered-Flag-Streifen, der sich über Front, Tank und Heck zieht

Der sportlichere der beiden damals erhältlichen Octane-Lenker fördert die Kontrolle, beugt er dich doch stärker zum Vorderrad. Die Spiegel an seinen Enden sehen cool aus, können dort aber nicht bleiben: Beim engen Wenden nah am Lenkanschlag nämlich hängen sie plötzlich an deinem Knie. Wohl dir, wenn du dann den Fuß rechtzeitig auf den Boden kriegst. Es wäre schade um die keck ans Heck gereckten, schlanken Slip-on-Dämpfer von V-Performance, deren Anstellwinkel Ludwig durch Umschweißen der Originalkrümmer erreichte.

Victory Octane – Wunderbarer 60-Grad-V-Twin

Und der 60-Grad-V-Twin? Braucht im Gegensatz zum Chassis keine Anschubhilfe. Vielleicht war er das Gelungenste an der Serien-Octane: eine 99-Newtonmeter-Gummiflitsche, sehniger, als sein Blubbern erwarten lässt und in Sachen Laufkultur auf hohem Niveau. Fast vibrationsfrei arbeitet er, nur wenn man ihn hart ausdreht, ist ein bisschen was los. Und drehen kann er.

Klar gesetzten Lenkimpulsen folgt die H&B-Octane willig und flüssig. Erst schert das Vorderrad ein, irgendwann kommt das Heck verlässlich nach

Mit 101 Millimetern Bohrung und 73,6 Hub ist der 1200er kurzhubiger ausgelegt als alles andere, was einen Cruiser antreibt. In der Scout der überlebenden Schwestermarke Indian darf er in leicht abgewandelter Form weiterleben. Ist das ein Trost? Für Cruiser-Fans bestimmt. Alle anderen erfreuen sich an Indians FTR 1200.

Info |  h-b-motorcycle.de

 

Guido Kupper
Redakteur bei CUSTOMBIKE

Guido Kupper, fährt praktisch seit seiner Geburt in grauer Vorzeit Motorrad, hat mit dem Schreiben aber erst angefangen, als er schon sprechen konnte. Motorisierte Zweiräder hat er nur acht Stück zur Zeit, Keller und Garagen sind trotzdem voll. Sein letztes Ziel im Leben: Motorrad fahren und mal nicht drüber schreiben