Lasst uns dieses eine Mal nicht reden über Fahrbarkeit, Alltagskisten, Ergonomie, Handling, Regeln oder Bestimmungen, denn dieser Umbau auf Basis einer BMW R nineT ist schlicht und einfach »nur« Customizing auf höchstem Niveau.

Wir sind ein ruhiges Team, nicht geleitet von übermäßigen Gefühlsausbrüchen und giggelndem Hühnerhaufengehabe angesichts der Hunderten Motorrädern, die wir im Laufe unseres Lebens als Custommagazinmacher so sehen.

Im Heckteil verbirgt sich ein Extrafach samt Telefonanschluss und Steckdose zum Anschließen eines Ladegeräts

Da ist es schon fast eine Sensation, wenn der stoische Pfälzer Layouter mir eine Nachricht aus dem Homeoffice sendet, Wortlaut: »Ich bin ja nicht leicht zu begeistern, aber das hier hat mir heute Morgen direkt mal den Kaffee ins Gesicht gedrückt.« Zwei Minuten später eine Mail vom zweiten Layouter, »GUCK DIR DAS MAL AN!« und wieder zwei Minuten später unser Online-Redakteur am Telefon völlig außer sich, »komm rüber, das musst du sehen«. Alle drei beziehen sich aufs selbe Motorrad, und die Chefin ist stolz auf ihr Team, das die Unglaublichkeit einer Kreation unisono erkannt hat.

Ein Motorrad, das die Redaktion ausnahmslos begeistert

Tatsächlich ist das anvisierte Motorrad aber auch mir nicht verborgen geblieben und ich kann die Restmannschaft beruhigen. Der Kontakt zum Schrauber ist bereits aufgenommen, ein Glück, dass ich Dima bereits kenne. Immerhin hatte der innovative Customizer aus St. Petersburg uns schon vor zwei Jahren aus den Socken gehauen, als er mit einem Yamaha-Umbau als erster russischer Bikebuilder überhaupt die prestigeträchtige Custom-Weltmeisterschaft gewann.

Von wegen reines Showbike. Für Dima ist Fahrbarkeit kein Ausschluss bei umfangreichen Umbauten

Dass er daneben schon weitere unglaubliche Motorräder auf Jawa- oder Vincent-Basis hervorgebracht hat, geschenkt. Nun also hat sich Dima im Auftrag von BMW Motorrad Russland an den Dauerbrenner R nineT gewagt – und das Ergebnis ist so verdammt anders, als das, was die versammelte Boxergemeinde in den letzten Jahren in ihrer Scrambler-Racer-Trackerblase so zusammenbaute.

Im Auftrag von BMW Motorrad Russland entstand die nineT-Interpretation von Zillers Garage

»Motor, Antriebsstrang, ein Teil des Rahmens«, Dima zählt zügig auf, was vom Original geblieben ist. Und unschwer ist zu erkennen, auf was die zehnmonatige Arbeit des Customizers sich konzentriert hat. Über das komplette Bike spannt sich eine retro-futuristische Hülle, nur die Boxer-Zylinderköpfe stehen noch hervor.

Selbst die Ansaugrohre wurde sorgfältig verkleidet

Die Außenhaut ist aus Aluminium handgebaut und erzeugt ein Motorrad wie in Samt getaucht, aus der Luftfahrt inspiriert, vorn mit Robotergesicht, hinten klassisch gestaltet. Und tatsächlich ein handwerkliches Level, das auf Augenhöhe ist mit Legenden wie Krugger und Co. Dass die Hülle allein nicht reicht, beweist Dima im Detail, denn seine Ideen und Teile sind sorgsam gewählt und umgesetzt.

Die komplette Außenhaut ist aus Aluminium handgefertigt

Da wär allein dieser Bogen, der sich über Lenker und Tank zieht und als funktionales Cockpit eine zweite Bestimmung findet, mit eingelassenem Motogadget-Instrument und einer Reihe nahtlos integrierter Tastknöpfe, dazu das in die Verkleidung versenkte Rücklicht oder die vier Blinker perfekt in die Hülle integriert. Der Heckbürzel offenbart sich als ausziehbares Fach, es verfügt über einen Telefon-Ladeanschluss und eine Steckdose zum Anschließen eines Ladegerätes.

Klare Linien ohne Ecken und Kanten, stattdessen organische Formen

Und überhaupt, das Motorrad parkt schier selbstständig ohne Haupt- und Seitenständer. »Ein paar Tasten oben steuern die Luftfederung«, erklärt Dima, dem wichtig ist, dass seine Kreation voll funktionstüchtig ist und ja, auch fährt. »Warum sollte sie es auch nicht«, grinst er.

Das Fahrwerk verfügt über eine selbskonstruierte Luftfederung mit Steuerung

Die komplette Fahrwerkstechnik konstruierte der Russe neu – vom Drehen der Pneumatikzylinder bis zum Bau des Steuerungsmechanismus. Das System läuft vorn in der Gabel und hinten mit einem überarbeiteten Stoßdämpfergestänge. Die hydraulischen Kupplungs- und Bremshauptzylinder wurden von Grund auf neu gebaut, zusammen mit integrierten Schaltern. Die eigens hergestellten Aluminium-Räder ähneln Turbinen, luftfahrtinspiriert.

Im Fahrbetrieb wird das Chassis angehoben

Die Ausbuchtungen auf jeder Seite des Hauptrumpfs verbergen zwei 3-D-gedruckte Luftkästen, die mit Autoluftfiltern ausgestattet sind. Die 2-in-1-Auspuffanlage aus Edelstahl schlängelt sich einmal durch die Karosserie, bevor sie in einem Schalldämpfer auf der linken Seite mündet. Und ja, sogar eine Nummernschildhalterung gibt es hinten an der Schwinge, womit Dima das Unglaubliche bestätigt: »Es ist alles so vorgesehen, dass es zumindest hier in Russland eine Straßenzulassung geben wird.«

Übergroße BMW-Embleme sorgen für Farbtupfer

Das ausgefallene Design wird durch eine monochrome Lackierung ergänzt. Alles trägt den gleichen Grauton – von der Karosserie bis zu den Gabelholmen, über den Motor zu den Rädern. Dazu kommen subtile Nadelstreifen in einem helleren Grau. Nur eine Reihe übergroßer BMW-Embleme sorgen für Farbtupfer.

Die turbinenartigen Räder sind eine Einzelanfertigung

Perfektes Handwerk auf höchstem Niveau

Aber unabhängig davon, wie perfekt Technik, Handwerk und Optik hier auch harmonieren, ob dieses Motorrad geliebt oder gehasst wird, wichtig ist am Ende nur eines. Jede Szene braucht Visionäre, die bereit sind, Konventionen zu umgehen und ausgefallene und unvergessliche Dinge zu erschaffen. So unvergesslich, dass sie auch ein ansonsten ruhiges Team für einen Moment in kollektive Begeisterung versetzen.

Info | Instagram: @zillers_custom_garage


 

Arbeitet seit 1996 für den Mannheimer Huber Verlag, gehört seit 2005 zum festen CUSTOMBIKE-Magazin-Team und steuert seit 2013 das ansonsten männerbevölkerte CUSTOMBIKE-Schiff als Chefredakteurin. Beruflich hat sie jeden großen und kleinen Customtrend der letzten zwanzig Jahre mitgemacht, glaubt aber letztlich an den Erfolg von Bodenständigkeit und Konstanz – auch die Maxime für die Arbeit an Deutschlands ältestetem Magazin für umgebaute Motorräder. Sie selbst pflegt beste Kontakte in die Umbau- und Schrauberszene, nicht nur in Deutschland, weiß meistens genau, wer gerade an was baut, und berichtet mit Vorliebe über die Geschichten hinter den Motorrädern und über echte Petrolheads, die das Customizing von ganzem Herzen leben. Fürs private Zweiradglück genügt ihr eine Honda CB 400 Four, mit Baujahr 1977 gerade mal ein Jahr älter als die Chefin. Aktuell steht die Honda allerdings auf der heimischen Hebebühne und soll bald in neuem Glanz erstrahlen – a bikers work is never done.