Hypothese: Wäre die BMW R nineT Pure in dem Zeitalter gebaut worden, in das sie optisch passt, wäre sie das beste Motorrad der Welt gewesen. Doch bei den sogenannten Heritage-Modellen gibt’s Technik von gestern im Design von vorgestern.

Es ist kein Geheimnis. Ich bin kein großer Fan der 9T-Reihe. Tatsächlich verstehe ich unter funktionalen Gesichtspunkten den Erfolg dieser Baureihe nicht. Auf der Straße empfinde ich das Fahrverhalten in der Rubrik „sportlich“ als schlecht. Ewig stempelt das Hinterrad bei hartem Ritt und spätem Anbremsen in die Kurve rein, speziell bei der Pure gefolgt von Untersteuern beim heftigen Herausbeschleunigen aus dem Radius.

Die Gabel ist zu weich in der Feder, die Dämpfung müsste ­straffer sein

Bei drängenden Gangwechseln gefolgt von zupackenden Gasbefehlen rührt sich der Eimer schon mal bis in höhere Geschwindigkeitsregionen hinauf. Störende, deplatzierte ­Reaktionen eines alten Mopeds von einer neuen BMW? Diese meine Meinung beruht in erster Linie auf der unausgewogenen Abstimmung des Dämpferwerks. Die Gabel ist zu weich in der Feder und die Dämpfung muss ­einfach straffer sein – für mein Gewicht jedenfalls. Das Federbein hingegen ist für sich allein betrachtet ordentlich abgestimmt. Nur in Kombination mit der labbrigen Front wirkt das Heck trampeliger, als es ist. Schade eigentlich.

In Sachen Anmutung kann man allen 9Ts nur schwer das Wasser reichen. Einstellbare Handhebel und …

Kritische Hinweise auf das hohe ­Alter des Motors dagegen lasse ich nicht zu. Das ist Boxertum auf hohem Niveau. Doch wir schreiben das Jahr 2023, da sind Antihoppingkupplungen bald in jeder 500er vom Krabbeltisch verbaut. Und dann dieses Getriebe, das oft komisch in irgendwelche Zwischengänge rutscht, wenn meine Fußspitze beim Umsetzen den Schalthebel streift.

Blecherner Sound bei der BMW R nineT Pure

Als ­Zwischensumme steht: Das Fahrwerk, das Getriebe, der Kardan und ich, wir werden einfach keine Freunde. Dazu ­haben sie der Pure – wie ihren Schwestermodellen mit nur einem Endtopf – einen zwar knalligen, aber zu blechernen Sound hinkonstruiert, die Doppelflöten von Scrambler oder 9T machen das bassig und besser. Genügend Gründe für mich, auch das verbleibende Geschreibe über die Pure in gramerfüllte Dampfplauderei zu packen.

… Lenkungsdämpfer sind serienmäßig bei allen Derivaten der BMW an Bord

Doch: Ich mag die Pure. Sie passt mir gut, was ich über die anderen Familienmitglieder so nicht ­sagen kann. Bei denen stört mich tatsächlich noch mehr. Haupt­sächlich der Preis. Auch wenn dieser bei der Pure in den letzten fünf Jahren von 12.450 auf 14.100 Euro gestiegen ist, empfinde ich ihn im Verhältnis zu den beinah obzönen 17.050 Talern für die Basis-9T als äußerst attraktiv, da bliebe durchaus noch ­etwas Spielgeld für ein besseres Fahrwerk.

BMW R nineT Pure – Ideal des puristischen Roadsters

Auch die äußerliche Zurückhaltung in dem ­schönen Mineralgrau mit dem einzelnen Instrument und der flachen, geteilten Sitzbank macht an. Zusammen mit meinem derzeitigen Lieblingsgummi, Bridgestones T30 Evo, als Erstbereifung (ein Heilmittel für weiche Fahrwerke) kommt die Pure meinem Ideal eines puristischen Roadsters näher, als ich zugeben möchte.

Deutlich hinter dem bassigen Sound von 9T und Scrambler rangieren die Lebensäußerungen der Einzeltöpfe von Pure, Racer und Urban G/S

Dazu finden sich auf der Straße die Pluspunkte der leichtesten und agilsten Schwester im Fünferpack: Hier kann die Pure ordentlich punkten. Die einfachen Gussfelgen in 17 Zoll sind die leichtesten der Familie. Dazu gesellen sich sehr bewegliche Geometriedaten mit 63,4 Grad im Lenkkopf und 105 Millimetern als Nachlauf. Die teure 9T ist zwar sportlicher angelegt (64,5 Grad und 102,5 mm), das aber wird durch die schweren Speichenräder konterkariert.

»Der Boxer trifft gelegentlich punktgenau meine Lustzentren«

Den Vergleich mit der treffend gestalteten und gleichbereiften Racer (63,6 Grad und 103,9 mm) gewinnt in Sachen Einlenken auch die Pure, da die breite Segelstange das Schiff ein­facher steuern lässt als die tiefen Stummel. Auch der gute alte Boxer mit seiner Ölkühlung trifft gelegentlich punktgenau meine Lustzentren. Aber nur zwischen 5 000 und 7 000/min. Da geht die Pure schon richtig gut und der Ton ist hörenswert. Darüber drehen macht bei dem Motor wenig Sinn und darunter nimmt sich der Boxer etwas Zeit zum Verschnaufen.

Für den Preis ist das Paket ansprechend zusammengestellt. Wenn eine 9T, dann die Pure!

Über jeden Zweifel erhaben und jederzeit sicht- wie spürbar ist die hochwertige Verarbeitung aller Teile: Zum Beispiel die allerorten verwendeten Torx-Schrauben mit eingestanztem BMW-Schriftzug. Oder die Gussteile mit makelloser Oberfläche. Sie liefern eine Qualitätsanmutung, die sich bei ähnlich im Markt platzierten Mopeds nicht mal mit Geld oder Gewalt kriegen lässt. Fazit: Beim Fahrwerk seiner Modellableger hat BMW gepatzt und auch beim Endantrieb ist immer noch Luft nach oben. Der Preis für das Paket Pure stimmt trotzdem. Wenn es denn unbedingt eine 9T sein muss, dann die Pure.

 

Zusammenfassend noch ein Blick auf unser Testcenter …

Fahrwerk
Sehr handliche Fahrwerksauslegung, vor allem mit den leichten Gussfelgen. Einlenkimpuls, Korrekturen, Wechselkurven, alles geht eine gute Schippe handlicher als bei der Basis-9T. Unsaubere Fahrwerksabstimmung, die nicht einstellbare Gabel ist zu schwach gedämpft und führt das Vorderrad auf schlechtem Belag fahrig. Heck dagegen straff. Kräftiges Herausbeschleunigen mit schnellen Schaltvorgängen bringt viel Unruhe ins Fahrwerk. Weitgehend neutral in Kurven, unter hartem Zug Untersteuer­neigung. Engster Wendekreis von allen 9T-Versionen. Bremspaket mit leicht diffusem Druckpunkt, aber viel Brems- bei wenig nötiger Handkraft. Testbereifung: ­Bridgestone T30 Evo.

Praxis
Aufrechte, versammelte Sitzposition mit nur schwacher Orientierung nach vorn. Sitzbank mit auf Dauer 
drückenden Kanten an den Oberschenkeln. Auch Sozius­platz kein Komfortwunder. Ausstattung überschaubar: bei Euro-4-Modellen gibt’s keine Fahrmodi oder Regelelektronik, bei Euro-5-9Ts immerhin die automatische Stabilitätskontrolle ASC und die Fahrmodi Rain & Road. Gegen Aufpreis Fahrmodi Pro mit Dynamic-Modus. Alutank, Speichenräder und vieles mehr optional. Simples, übersichtliches Einzelinstrument mit Tacho ergänzt durch ein LCD-Display mit Bordcomputer, kein Drehzahlmesser, keine Tankuhr, keine Ganganzeige. ABS abschaltbar, Lenkungsdämpfer. Handhebel fünffach einstellbar. Gabel ohne Einstellmöglichkeit, Federbein in Vorspannung und Zugstufe variabel. Single-Endtopf. Kein Hauptständer. Ölschauglas, wartungsarmer Kardan, 10 000er-Wartungsintervall.

Emotionen
Momente der Freude erschafft die Pure durch Einfachheit. Preis und Funktion stehen bei ihr im günstigsten Verhältnis.

 

 

Jens Kratschmar