10 Jahre nach ihrer Premiere huldigen wir der BMW R nineT, mit der München zurück in die Herzen der Fangemeinde fuhr und der Gummikuh Sinnlichkeit verpasste …

Es gibt unzählige Varianten, dem geschriebenen Wort mit einer mehr oder minder grundsatzphilosophischen Episode einen mehr oder minder gewichtigen Start zu verpassen. Die englischsprachige Welt hat da wie so oft eine sehr viel griffigere Formulierung parat, als sie unsere schwermütig komplizierte Muttersprache jemals haben könnte: „Start with a bang!“ Mittel der Wahl: Ein tiefgründig klingendes Zitat.

»Wenn du lang genug an einem Ort lebst, wirst du zu diesem Ort«

In diesem ­Sinne muss diese Geschichte mit dem einzig wahren Straßenphilosophen der Gegenwart beginnen: Rocky Balboa. Eine seiner ­vielen Weis­heiten: »Wenn du lang genug an einem Ort lebst, wirst du zu diesem Ort.« In Motorradbegriffe übersetzt: »Wenn ein ­Motorrad lang genug an einem Ort entwickelt wird, wird es zu diesem Ort.«

Trotz viel Bohei ums Design gibt es solid-unterkühlte BMW-Armaturen-Standard-Ware. Natürlich mit sichtbarem (Blind-) Raum für Extras

München also. Durchaus schön anzuschauen, gern weltläufig und mit Stolz als leuchtendes Beispiel für deutsche Qualitäten präsentiert – und so ordentlich und sauber, dass selbst der Schwabe neidisch wird. Aber auch legendär überteuert und im Kern etwas kleingeistig langweilig. Und, seien wir ehrlich: Trotz aller sichtlichen ­Bemühungen ist cool irgendwie anders.

BMW R nineT mit klassisch analogem Herzklopfen

Die BMW 9T war für mich schon ­immer wie München. Sie fetzt, keine Frage. Und reichte die Motorradwelt nicht wesent­lich weiter als von Bad Kissingen bis ­Garmisch-Partenkirchen, sie fetzte sogar mehr, als man es sich jemals hätte ausmalen ­können. Mit nicht gekannter Vehemenz hat sie sich den Weg in die oft mit unterkühlter Schonkost gespeisten BMW-Herzen gesucht. Nicht wie beispielsweise damals zeitgleich präsentierte S 1000 R – mit nüchtern perfekter, fast klinischer Funktion, sondern mit klassisch-analogem ­Herzklopfen.

Boxer und Kettenantrieb? Ja mei, seid’s narrisch? Good old Kardan am Heck. Mit dezenten, aber gut spürbaren Lebensäußerungen

Das wuchtige Erscheinungsbild mit viel Masse vorn und ganz wenig hinten: sexy. Der grandios inszenierte, alles dominierende Motor: stark. Dieser kunstvoll geschwungene und mit feinster Schweißnaht versehene Tank: zum Streicheln schön. Und so geht es weiter, fast egal in welche Richtung des Bayern-Krads der Blick schweift. So viel Boxer-Sex gab es vorher nur für viel Geld beim Customizer oder für viel Schweiß in der heimischen Garage. München ist halt schon schön. So viel Boxer-­Gebell gab es zuvor ab Werk auch noch nie.

Verzicht auf entkoppelnde Münchner-Fahrwerks-Sonderwege

Wie ein Hund, der nach Tagen endlich wieder aus dem Zwinger gelassen wird, springt er einen fast an, der Sound beim Start. Ordentlich pressiert hat dieser große, luft-ölgekühlte Flat-Twin auch schon vor der 9T. In keinem Paket aber konnte er so unvermittelt, so frei von Ballast seine nackte Nase in den heranstürmenden Fahrtwind strecken. Dazu der Verzicht auf entkoppelnde Münchner-Fahrwerks-Sonderwege wie Tele-, Duo- oder Was-weiß-ich-lever zu Gunsten von ehrlicher Hardware, wie sie auch die restliche Motorradwelt verwendet, und fertig ist der geschmacksintensivste Roadster, den die Bayern bis dato an den Start gerollt haben.

Konventionelle Fahrwerks-Hardware an der 9T, ganz ohne lustdämpfende BMW-Spezialitäten wie Telelever und Co.

Wie er sich unter publikumswirksamem Trompetenschmettern wirkungsstark die lange Drehzahlleiter hochschnorchelt, dabei fast vibrationsfrei bleibt, sich mit gleichbleibender Macht punktgenau zusammenstauchen lässt und dann mit sattem Schmatz die Kurve durcheilt, das hat was. Die ab Werk etwas zu weich justierte Gabel lässt sich dank passender Einstellschräubchen auf die nötige Härte trimmen. Münchner Küche ist halt schon lecker.

Was die BMW R nineT abliefert, ist für bayerische Verhältnisse unglaublich

Friede, Freude, 9T-Kuchen also? Nun, Stadt der Herkunft wie Motorrad haben es umso schwerer, wenn der eigene Horizont dann doch mal Landesgrenzen überschreitet. Denn was die 9T abliefert, ist für bayerische Verhältnisse unglaublich und im interna­tionalen Vergleich okay. Sobald das Geld dann aber doch eine Rolle spielt, ist es fast schon dreist.

Es bellt, brummt und brutzelt aus dem doppelläufigen Kanonenrohr, wie es mit dem Münchener Knigge lange nicht konform ging

17.050 Euro kostet der Flirt mit Vergangenheit und Coolness mittlerweile. Und das lässt die Qualitäten der 9T bei aller Liebe in einem anderen Licht erscheinen. Dann muss man nämlich feststellen, dass die Kardanreaktionen zusammen mit dem unweigerlichen Rechtsdrall des Boxers bei jeder Bewegung des Gasgriffs Unruhe in die Fuhre bringen. Dass der Bock nicht wirklich ­handlich ist, sondern mit strammer Hand auf Linie ­gebracht und gehalten werden will. Dass es hinten mangels Antihoppingkupplung vor jeder engagiert ­angefahrenen Kurve stempelt, was das Zeug hält.

Die BMW R nineT ist immer noch eine Elektronikwüste

Dass der stilbildende Antrieb das hohe Boxerlied mit aller nötigen Hingabe singt, aber am Ende des Tages eben doch größtenteils nach einer sehr lauten und brummigen Nähmaschine klingt. Und dass die 9T immer noch eine Elektronikwüste ist, was in der ­Retro-Szene zwar selten ein wirklicher Dealbreaker, in der performanten 17.000-Euro-Szene jedoch eigentlich nicht mehr tragbar ist. Kurzum: Dass die Performance eine gut spürbare Ecke hinter der Optik hängt und man andernorts beide Dimensionen trefflich ­miteinander verbinden könnte. Für teils weniger Geld. München ist schon teuer.

Ob im Stand oder in Fahrt: Nie gerät der attraktive Boxer aus dem Blickfeld. Übrigens ist die 9T-Familie neben der R 18 die letzte Möglichkeit im Hause, luftgekühlt zu boxern

Was die Leute da draußen aber trotzdem nicht ­davon abhält, dort wohnen zu wollen, im Gegenteil. Genau wie unser bisschen niedergeschriebener Gram die Leute nicht vom Gang in den örtlichen BMW-­Glaspalast abhält. Im Gegenteil: Die 9T samt Derivaten verkauft sich noch immer prächtig, auch wenn der große Hype mitlerweile vorüber ist. Aber die 9T hat München ein bisschen Lässigkeit und BMW ein bisschen Coolness beschert. Da schaut man halt nicht so genau aufs Geld. Da wird mit dem Bauch gekauft. Und wenn ein Motorrad das schafft, hat es viel richtig gemacht. Und unseren ­Respekt verdient. Außerdem: In München verdient man halt auch gut.

Zusammenfassend noch ein Blick auf unser Testcenter

Motor
Der Boxer springt regelrecht an den Start, grüßt beim ersten Gasstoß mit dem herrlich vertrauten Trägheitskippmoment der Kurbelwelle nach rechts. Weich und doch spontan hängt er am Gas, sein Sound lässt sofort den Mund offen stehen. Lastwechselreaktionen schwach, zusammen mit den Kardanreaktionen beim Highspeedflug aber präsent. Hohes Anfahrdrehmoment vom Fleck weg, kurze Übersetzung bringt einen wuchtigen Pusteeffekt. Brummige Laufkultur mit bis rund 4000/min mütterlich weichen Vibrationen, danach ­etwas härter, exakt die Dosis, die im Nacken die Härchen aufstellt. Boxer läuft im hohen Gang schon knapp über 1000/min rund. Druckvoll ab 2500/min, kurzer Gedenkmoment bei 5 500/min, dann Attacke bis in den weich einsetzenden Begrenzer bei rund 8 500/min. Hydraulische Kupplung leichtgängig, prima Trennverhalten trifft auf perfekte Dosierbarkeit. Getriebe leicht und klar schaltbar, Leerlaufsuche einfach. Bei 6,3 auf lebhafte Art verbrauchten Litern reicht der Tank für rund 280 Kilometer.

Fahrwerk
In Sachen Handlichkeit goldene Mitte, fordert die 9T mit klarer Heckorientierung keine nachdrücklichen Einlenkimpulse, zieht auch bei hohen Tempi einen sauberen Strich, ist aber nicht so wendig agil wie die Pure mit Gussrädern und geht auch nicht so willig auf die enge Linie. Stabil geradeaus bis Topspeed, neutral in Kurven, stellt beim Anbremsen in Schräglage nur schwach auf. Voll einstellbare Upside-down-Gabel führt transparent und straff am Asphalt, spricht feinfühlig an und bietet beim Bremsen Reserven. Gute Balance zwischen Front und dem straffen Heck, das ruppig auf Belagkanten anspricht. Sehr effiziente Frontbremse, nicht ganz so fein dosierbar wie die simpler gebauten der Schwestern. Einfingertauglich, ohne ­gefährlich giftig zu sein. ABS. Bereifung im Test: Metzeler Roadtec Z8 Interact.

Praxis
Oldschool-Sitzkomfort. Prima Knieschluss, lockerer Kniewinkel. Über 1,80 Meter Fahrergröße wird’s enger, die Rasten dürften etwas weiter hinten sitzen. Lenkerposition bringt nur leichten Frontbezug, Grundauslegung mit Fahrer hecklastig. Sitzbank flach und der Anatomie wenig angeformt, auf Dauer sitzt man an den Kanten auf. Ergonomie des Soziusplatzes in Ordnung, Polster aber auch kein Komfortwunder. Feines Finish, Analoguhren mit Tacho und Drehzahmesser, Digitalfenster, Bordcomputer und Ganganzeige,aber keine Tankuhr. Ausstattung angesichts des Preises nicht üppig, keinerlei Elektronik, ASC optional. Gabel voll, Federbein in Vorspannung und Zugstufendämpfung ­einstellbar, Alutank,Lenkungsdämpfer. Kein Hauptständer, keine Tankuhr, justierbare Handhebel. Überschaubares Werkszubehör für die Individualisierung. Wartungsarmer Kardan, 10000-Kilometer-Wartungsintervalle, Ölschauglas.

Fazit
Die BMW R nineT ist eigentlich zu teuer und sie ist nicht perfekt. Ihr Twin ist die heilige Essenz des Boxermotors, ein würdiger Protagonist reinen Roadster-Erlebnisses. Mit dem geilsten Boxermotor und dem geilsten Serienboxer-Sound ever. Aber auch mit magerer Ausstattung, magerem Soziuskomfort und etwas zu klein für Fahrer jenseits der 1,85 Meter. Aber die können ja auf der Scrambler Platz nehmen.

 

René Correra